Hier findet sich eine Fronleichnams-Predigt.

Jürgen Kuhlmann

Ihr seid Christi Leib

Hat Fronleichnam noch einen Sinn? Darüber ist schon viel nachgedacht und gestritten worden. Deshalb sei die Frage einmal abgewandelt: Hat Fronleichnam schon seinen Sinn? Oder ist das altvertraute Fest vielleicht noch gar nicht ganz es selbst gewesen, solange in erster Linie Gott segnend durch die Fluren zog oder die katholische Konfession sich der realen, allen Mitbürgern vorzeigbaren Anwesenheit Christi dankbar und etwas stolz erfreute? Wird die Kirche der Zukunft angemessener Fronleichnam feiern als unsere Väter und wir?

Um zu einem tieferen Verständnis zu gelangen, wollen wir einen sonderbaren Umweg betreten. Er verläßt die uns bekannten Gegenden menschlicher Erfahrung, ist jedoch wissenschaftlich gesichert und mündet unvermutet mitten im Geheimnis der Eucharistie. Wie würde der Thomismus aussehen, hätte Thomas schon von Eva Weiß und Eva Schwarz gewußt?...

Die drei Gesichter Evas

Was ist Seele? Wie verhält sich die Person zum Leib? Meinen wir mit Recht, das sei im Grunde klar? Urteilen Sie selbst. Der folgende Bericht bringt eine (leider allzu knappe) Zusammenfassung eines der erstaunlichsten Bücher aller Zeiten (Thigpen und Cleckley: Die drei Gesichter Evas, Rowohlt, Hamburg 1957).Der Fall ist aufgrund des wissenschaftlichen Ranges der Verfasser aufs beste verbürgt, zudem durch Filme und Tonbänder belegbar.

Folgendes begab sich zu Beginn der fünfziger Jahre in Georgia, USA. Eines Tages kam eine junge Frau (Deckname: Eva Weiß) zum Psychiater. Mit gleichmäßiger, etwas monotoner Stimme erzählte sie von ihren heftigen Kopfschmerzen. Sie machte einen überaus ernsten, zurückhaltenden Eindruck. Weiter ergab sich, daß ihre Ehe nicht glücklich war; ihr Lebensinhalt war vor allem ein kleines Töchterchen.

Nach längerer ergebnisloser Behandlung rief plötzlich der Mann an und erzählte, Eva sei auf eigene Faust in die Stadt gegangen und habe eine Menge Kleider gekauft. Eva selbst hingegen behauptete, sie habe die Kleider zum ersten Mal in ihrem eigenen Schrank gesehen. Und was für Kleider - für ihren Geschmack und Geldbeutel um vieles zu elegant. Stockend gestand sie dem Arzt später, daß sie manchmal Stimmen höre. Bald kam eine entscheidende Stunde:

"Etwa eine Minute lang schwieg sie. Nun wurde der nachdenkliche Ausdruck in ihren Augen fast zu einem starren. Eva schien für einen Augenblick wie geblendet. Plötzlich begann sich ihre Haltung zu verändern. Ihr Körper wurde langsam steif, bis sie hochaufgereckt dasaß. Ein fremder, unerklärlicher Ausdruck kam in ihr Gesicht. Mit einem Mal war dieser Ausdruck wieder wie weggelöscht, sie wurde totenbleich. Wie in einer langsamen, kaum merklichen Wandlung schien sich alles an ihr zu verändern. Für einen Moment hatte man den Eindruck, daß etwas Unheimliches vorging. Sie schloß die Augen, zuckte dann zusammen, preßte ihre Hände gegen die Schläfen und verkrampfte die Finger, als müsse sie gegen einen plötzlichen Schmerz ankämpfen. Ein leichter Schauer rann über ihren ganzen Körper. Dann fielen die Hände herab. Sie entspannte sich leicht und nahm eine so bequeme Haltung ein, wie der Arzt sie bei dieser Patientin noch nie zuvor gesehen hatte. Ein Paar blaue Augen waren auf ihn gerichtet, um die ein rasches, unbekümmertes Lächeln spielte. Mit einer hellen, dem Arzt ganz ungewohnten Stimme, hinter der sich eine seltsame Fröhlichkeit zu verbergen schien, sagte die Frau: 'Hallo, Dokterchen!' Dann ließ sie ein leises, überraschend intimes Lachen hören und schlug die Beine übereinander" (S.29f).

Aus Eva Weiß war Eva Schwarz geworden. Sie machte einen scharfen Unterschied zwischen sich selbst und der anderen: "Sie war in der letzten Zeit wirklich übel dran, bestimmt. Manchmal tut sie mir direkt leid. Aber dann ist sie wieder so gräßlich pedantisch ... Ich bin ich und sie ist sie. Mir macht das Leben Spaß und ihr nicht" (S. 31f).

Die Neue hatte zwar Zugang zum Bewußtsein und den Erinnerungen der anderen - nicht aber umgekehrt: "Sie weiß überhaupt nichts von mir ... Wenn ich herauskomme, hat sie keine Ahnung davon. Ich gehe, wohin es mir paßt, und tue, was mir paßt, und das alles hat bestimmt nichts mit ihrem albernem Kram zu tun. (S.35) ... Vor einer Woche etwa war ich fast die ganze Nacht heraußen und habe mich ganz schön mit Gin vollgepumpt. Sie hätten mal ihre Gedanken sehen sollen, als sie am nächsten Morgen aufwachte und feststellen mußte, daß sie einen Kater hatte! Es war ein Prachtstück von einem Kater! Sie wußte natürlich gar nicht, was das war, und wie sie damit fertig werden sollte. Sie fand den Zustand abscheulich und war zu Tode erschrocken" (S.38).

In der Folgezeit kam Eva Schwarz immer häufiger heraus. Sooft sie im Büro auftauchte und allerlei Unsinn trieb, mußte Eva Weiß hinterher die Stelle wechseln. Da die Ärzte sie über das Dasein der anderen (von der sie unmittelbar überhaupt nichts wußte) aufgeklärt hatten, vermochte sie diese Rückschläge einigermaßen zu überstehen.

Die Ehe freilich wurde derart unerträglich, daß die beiden getrennt lebten. Später wurde von jeder Eva ein Film gedreht, und der je anderen vorgeführt. Der belustigte Kommentar von Eva Schwarz: "Seht euch das an! Affektiert!" Eva Weiß hingegen verfolgte den Film mit feierlichem Ernst. Am Ende klang ihre Stimme bescheiden und erfüllt von echter Nächstenliebe: "Sie hat so etwas Frisches ... und sieht so jung aus." Nach langer Zeit gesellte sich zu den beiden Evas eine dritte Persönlichkeit: "Bei dieser neuen Frau war es noch offensichtlicher, daß sie in jeder Beziehung ein anderer Mensch war. Nur in einigen ganz unwesentlichen Dingen hätte man sie als eine Art Kompromiß zwischen den beiden Evas bezeichnen können. Keiner der vielen Fehler und Unzulänglichkeiten der Eva Schwarz war an ihr zu entdecken. Daneben aber erschien sie uns viel reifer, viel lebendiger, viel lebenstüchtiger und interessanter als Eva Weiß" (S.150). Sie nannte sich Jane und hatte Zugang zum Bewußtsein der beiden anderen, dafür aber keinerlei Erinnerung an die Zeit vor ihrem ersten Auftauchen. Nunmehr standen die Ärzte vor schweren Gewissensfragen. Was sollten sie überhaupt anstreben? Ein neutraler Beobachter hätte sich wahrscheinlich dafür entschieden, daß Jane am Leben bleiben sollte. Jedoch: sie fühlte sich nicht als Mutter des Kindes, liebte es vielmehr nur wie eine gute Tante. Eva Weiß durfte nicht sterben. Und Eva Schwarz? Wer dürfte sich vermessen, bei ihr die Euthanasie anzuwenden? Niemand, der die unnachahmliche Art dieses Geschöpfchens erlebt hatte, brächte das fertig.

Elf Monate lang gingen die drei Persönlichkeiten ihre getrennten Wege. Juristischer Vorgänge halber unterschrieben sie im Mai 1953, eine nach der anderen, einen notariellen Vertrag ("... und erklären sich gemeinsam und jede für sich damit einverstanden ...") (S.198). Noch ungeheuerlicher scheint folgende Episode. Eva Schwarz verführte (nicht aus Liebe, sondern um neuer Kleider willen) den Mann von Eva Weiß - mit dem "sie" immer noch verheiratet war - zu einem tollen Wochenende. Als Eva Weiß davon erfuhr, war sie tödlich gekränkt und ließ sich scheiden.

"Ihrer Reaktion lag noch etwas anderes und Ernsteres zugrunde als der verletzte Stolz einer treuen bürgerlichen Ehefrau, die feststellen muß, daß ihr Mann eine Nacht mit einer anderen Frau verbracht hat. Eva Weiß war im innersten Herzen entsetzt bei dem Gedanken, daß sie selbst, ihr eigener Körper, ohne Wissen und Willen sich zu diesem Betrug hatte herleihen müssen. Jane erklärte uns, daß sie es nicht für richtig halte, ihrerseits einen Einfluß auf diese Entscheidung auszuüben" (S.216 f).

"Einige Monate danach schürzte sich der Knoten. Eva Schwarz, die ewig Heitere, weinte auf einmal und verabschiedete sich vom Arzt: ‚Ich fühle mich so seltsam ... Nehmen Sie das rote Kleid und behalten Sie es zur Erinnerung an mich ...' Dann wurde Jane herbeizitiert. Bei dieser Unterhaltung ergab sich nichts Besonderes. Dann bat der Arzt Jane, noch einmal mit Eva Weiß sprechen zu dürfen.

"Wie mit einem Ruck richtete Jane sich steil empor; verwirrt starrte sie auf den Arzt. Ihr üblicher gelassener Gesichtsausdruck war wie weggewischt. Entsetzen glomm in ihren Augen auf. Und jetzt blickte sie schreckensbleich auf einen Punkt hinter dem Mann, der ihr gegenüber saß, und in schrillen, zitternden Tönen kam es aus ihrer Kehle: ‚Mutter ...! Oh Mutter ... Laß mich doch nicht ... Nein ...! Nein ...! Ich kann es nicht tun! Ich kann nicht!' Sie griff sich mit beiden Händen an die Schläfen und begann einen langgezogenen Schrei auszustoßen, der immer lauter und durchdringender wurde ... Unartikuliert, ursprünglich und anhaltend, hatte er weniger Ähnlichkeit mit einer menschlichen Stimme als mit dem Heulen einer alten Dampflokomotive. Keiner von uns hatte je einen so eindringlichen und seltsamen Laut aus dem Munde eines psychisch Erkrankten vernommen" (S.233).

In dieser Krise war aus den Dreien wieder eine Persönlichkeit geworden: Evelyn. Sie erzählte später:

"Als Sie mich baten, mit Eva Weiß sprechen zu können, ja, als Sie nach ihr fragten, da wußte ich auf einmal: Ich bin Eva Weiß!

Es mußte eine Erkenntnis von erschreckender Intensität gewesen sein. Einige Sekunden lang war kein Gedanke mehr in ihrem Hirn gewesen. Und jetzt war sie wieder, wie durch ein inneres Erdbeben, zutiefst erschüttert: wie in einer neuen Gefühlswoge, die heranflutete, überkam sie eine andere Erkenntnis. ‚Sie ist nicht da ... Es gibt keine Eva Weiß mehr ... Sie ist nicht da ... Ja, sie ist fort ... fort ... tot? ... Ja, sie ist tot ... nicht mehr da ... sie sind beide für immer weggegangen!' Mit plötzlicher, erschreckender Wucht überfiel sie der Begriff des Todes" (S. 235).

Aber ist das nicht lächerlich? Wieso tot?

"Wir fragten sie, ob sie sich vorstellen könne, daß sie Eva Weiß und Eva Schwarz nicht eigentlich verloren habe, sondern in gewissem Sinne sogar wiedergewonnen. ‚Nein, das kann ich nicht', sagte sie. ‚Wenigstens jetzt noch nicht. Ich fühle, daß ich wirklich etwas verloren habe. Einem Außenstehenden mag es vielleicht anders vorkommen. Nehmen Sie einmal an, daß ein Wandschirm vor Ihnen aufgestellt ist. Und nun haben Sie ein Jahr lang zwei Schwestern. Die beiden sind hinter dem Schirm, aber Sie wissen doch, daß sie da sind. Sie spüren genau, wie die beiden arbeiten, sich freuen und leben, obgleich der Schirm sie die ganze Zeit über verbirgt. Sie wissen, wohin die beiden gehen und können sie gewissermaßen begleiten, auch wenn sie hinter dem Schirm bleiben. Ich wußte immer, daß sie da waren und nun ist auf einmal der Schirm nicht mehr vorhanden. Und die beiden sind nirgendwo. Ich fühle mich so niedergedrückt. - Irgend etwas fehlt mir" (S.238 f).

Der Arzt erbte tatsächlich das rote Kleid. Damit endet - vorläufig - die Geschichte der drei Gesichter Evas. Später hat sie neu geheiratet und selbst wenn die Heilung nicht von Dauer sein sollte, "so müssen wir uns doch daran erinnern, daß sie einen Grad der Liebe und der Erfüllung erreicht hatte, den viele Menschen, denen die außergewöhnlichen Belastungen Evelyns erspart bleiben, nie gekannt haben. Gleichgültig, ob sie zum Schluß Siegerin oder Unterlegene sein wird, wir können ihr unsere Anerkennung nicht versagen" (S. 292).

Die vielen Weisen Gottes

Wie würde der Thomismus aussehen, hätte Thomas von den drei Evas gewußt? Vermutlich wäre Eva freilich als Hexe verbrannt worden. Wie muß aber - diese Frage ist nicht lächerlich - das Denken derer aussehen, die heute von ihnen wissen? "Person" und "Persönlichkeit" sind, auf Menschen angewandt, keine eindeutigen Begriffe mehr; denn einerseits sind Eva Weiß und Eva Schwarz dieselbe Person, andererseits sind sie verschiedene Personen. Bemerkenswerterweise ist die jüngste Wissenschaft, die Kybernetik, bereits Jahre vor dem Fall Eva Weiß zum selben Ergebnis gelangt. Bei Norbert Wiener lesen wir:

"Eines ist jedenfalls klar. Die physische Identität eines Individuums besteht nicht in der Materie, aus der es gemacht ist ... Vom Standpunkt der Rechenmaschinen aus liegt die Individualität eines Geistes in der Bewahrung früherer Prägungen und der beständigen Entwicklung entlang vorgegebenen Linien ... Nichts spricht innerlich dagegen, daß ein lebendiges Individuum sich in zwei Individuen gable, welche dieselbe Vergangenheit teilen, aber mehr und mehr verschieden werden. Das geschieht bei eineiigen Zwillingen; es gibt aber keinen Grund, warum es nicht bei dem, was wir Geist nennen, geschehen könnte, ohne entsprechende Spaltung des Körpers ... Die geistige Identität, die für die kirchliche Sicht der Individualität der Seele nötig ist, sie existiert gewiß nicht in dem absoluten Sinn, der für die Kirche annehmbar wäre" (The Human Use of Human Beings, 1950, S.108 f).

Die Kirche kann weder Eva als Hexe verbrennen, noch Wiener zum Widerruf zwingen. Sie will es auch gar nicht. Somit bleibt ihr kein anderer Weg, als ihre theologische Grundkategorie "menschliche Person" neu zu überdenken. War Eva Schwarz eine menschliche Person oder nicht? Ist sie nach ihrem mündlichen Testament gestorben oder nicht? War Jane die Mutter des Kindes? Fragen über Fragen. Sie lassen sich innerhalb des überkommenen, den meisten noch selbstverständlichen Denkrahmens nicht beantworten.

Wir gehen aus von einem bedeutsamen Sätzlein des heiligen Paulus: "Ihr alle seid Einer in Christus Jesus" (Gal 3,28)."Einer" heißt es, nicht "eins", wie die neue Übersetzung (Sonntag 12 C) un-persönlich abschwächt! [1970. Inzwischen stimmt der offizielle Text.] Daß wir alle zum Leib Christi gehören: das sagt und hört sich leicht. Ein verflossenes individualistisches Zeitalter vermochte in dieser Aussage nur ein ziemlich nebelhaftes Gleichnis zu sehen. Der Fall Eva Weiß macht es dem Willigen jetzt leicht, den Satz des Apostels in atemberaubender Wortwörtlichkeit ernst zu nehmen. Stellen wir uns Evas Vater vor, wie er nacheinander die beiden so gegensätzlichen Filme über seine Tochter ansieht. Und machen wir uns dabei klar: alle Kinder Gottes zusammen sind nichts weiter als verschiedene Erscheinungsweisen eines einzigen leibhaftigen Kindes Gottes, kurz: wir alle sind der eine und selbe Leib Christi. Das bedeutet: die Welt ist eine gewollte Bewußtseinsspaltung Gottes. Jede Erscheinungsweise kennt unmittelbar nur sich selbst, nicht die anderen - bis zum Augenblick der Heilung. Dann stirbt nicht die Besonderheit (wir glauben an die Auferstehung des Fleisches), wohl aber die Getrenntheit von den anderen: "Gott wird sein alles in allem" (1 Kor 15,28).

War Eva Schwarz nun eine besondere menschliche Person? Ja. Ist sie gestorben? Ja. Dürfen wir auf ihre Auferstehung hoffen? Ja. Nur wenn wir jede bestimmte Person als bestimmte Erscheinungsweise des einzigen Kindes Gottes betrachten, entgehen wir jener Klippe, an der die bisherige Systematik rettungslos strandet: wir brauchen die "unsterblichen Seelen" nicht mehr zu zählen. Denn das geht nicht. Wie viele Seelen trägt jeder von uns in seiner Brust? Fangen eineiige Zwillinge ihr Dasein als ein Tier an oder teilt sich eine Menschenseele später in zwei? Bleibt "Adams Mutter" auch im Himmel eine Äffin, oder muß der erste Mensch seine Ewigkeit mutterlos verbringen? Beides paßt schlecht zum Geheimnis des 15.August ... Die einzige Lösung scheint mir darin zu liegen, den Begriff "erster Mensch" (auch der Holländische Katechismus enthält ihn noch; S.14) rücksichtslos auszumerzen: entlang der kontinuierlichen Evolutionslinie läßt sich durchaus nicht zwischen "etwas" und "Jemand" unterscheiden! Nicht nur Adam, auch seine Mutter wird mit der ganzen Schöpfung "von der Knechtschaft der Vergänglichkeit befreit werden" (Röm 8,21); denn auch sie ist eine endlich-begrenzte Erscheinungsweise jenes einzigen Sinnes der Welt (= Logos), durch den und in dem alles geschaffen ist. "Jemand" gibt es nur einen, und zwar auf den verschiedensten Bewußtheitsstufen und in allen Arten von "Etwas".

Ist das aber nicht schlimmste Hegelei? Wenn alle, bis hinunter zu den Tieren, Gottes Kind sind: was ist dann die Sonderstellung Jesu? "Ihr seid von unten, ich bin von oben" (Joh 8,23) - soll das nicht mehr gelten? Doch. Kein Geschöpf ist von Natur aus Gottes Kind. Geschaffen sind wir allesamt aus dem Staub der Erde. Unsagbar vielfältige Wirbel von Atomen: das ist es, was wir sind. Die kompliziertesten solcher Regelkreise sind nicht nur an sich vorhanden, sondern auch für sich selber wirklich - doch auch dieses Bewußtsein bedeutet weder Einheit untereinander, noch gar göttliche Identität. Im Gegenteil spricht aller Anschein dafür, daß unsere Welt um so heftiger am Zerfallen ist, je verwickelter und bewußter sie einzeln und insgesamt wird. Kein Leib ist der Kosmos, sondern viel eher ein Leichnam, dessen Bestandteile auseinanderstreben.

"Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben" (Joh 15,5). Doch Gott sei Dank! Der Schein trügt, am kosmischen wie am historischen Karsamstag. Nicht der Zerspalter dia-bolos trägt den Sieg davon, sondern der lebendige Christus, "in welchem das All seinen Bestand hat" (Kol 1,17). Gottes Leib kann nicht verwesen. Nicht von Natur aus, kraft der Würde unserer Atomwirbel, wohl aber tatsächlich, weil Gott es so will, ist das bunte All sein Leib. Dieser Leib ist krank - warum, fragen wir jetzt nicht. Außer für den gläubigen Blick ist er, wie gesagt, sogar scheintot. Dennoch ist es in aller Wahrheit ein Leib, Erscheinungsfülle einer einzigen Person in vielerlei verschiedenen, ja gegensätzlichen Persönlichkeiten. Der Fall der drei Evas ist deshalb so erhellend, weil er diesem sonst beinahe unfaßbaren Begriff (ein Leib, eine Person trotz vieler gegensätzlicher Teilpersönlichkeiten) zu hinreißender Anschaulichkeit verhilft.

Daß die Welt Leib Gottes ist, jedes Einzelne eine seiner Weisen, eine Teiloffenbarung des Allerhöchsten darstellt - das ist der indischen Philosophie seit jeher geläufig. Solange das Christentum diese seine eigene Wahrheit weiterhin verleugnet, hat es in Indien weder Recht noch Hoffnung. Was Indien von der abendländischen Kirche zu lernen hat, ist zweierlei: 1) das Einzelne ist nicht bloß Traumspiel, sondern gleichfalls göttlich ernst, 2) die eine Person aller Persönlichkeiten will ihnen nicht nur innerlich als Selbst-Prinzip, sondern auch von außen her, geschichtlich, gegenwärtig sein. Der Dichter aller Figuren des Schauspiels schlüpft zusätzlich selbst in eine bestimmte Rolle darin; der Dirigent des Orchesters nimmt auf einmal am Klavier Platz und gibt nicht nur den Takt, sondern den Ton an; die zentrale Leitstelle, die den ganzen Leib in sich repräsentiert, stellt sich als bestimmtes Organ dar, ist nicht nur das Ganze, sondern auch - als Gehirn - ein Teil davon.

Diese Jesus-Wahrheit ist es wert, verkündigt und bis zum Tode bezeugt zu werden; an ihr scheitert jede bloße Philosophie des Absoluten. Wehe aber der Kirche, wenn sie den Menschen fernerhin verschweigt, daß er, der von oben kommt, kein anderer ist, als die gemeinsame göttliche Mitte ihrer eigenen verschiedenen Persönlichkeiten. Eva Weiß ist nicht Eva Schwarz und doch sind beide dieselbe Person; mein Daumen ist nicht mein kleiner Zeh und doch sind beide Ich; Paulus ist nicht Petrus (heute weniger denn je!) und doch leben beide, aber nicht mehr sie, sondern Christus lebt in ihnen.

Zeichen der Einheit

Damit mündet unser seltsamer Umweg unversehens mitten im Herzen des Fronleichnamsfestes. Die Eucharistie ist Zeichen und Mittel der unmittelbaren personalen Selbigkeit unser aller untereinander und mit jenem auferstandenen Jesus, der Gott selber ist. Früheren Jahrhunderten war all das vielleicht nicht in der heute möglichen Schärfe, aber doch recht klar bewußt - viel klarer als dem Gemüte vieler, die sich derzeit fortschrittlich nennen und nur selten zweifeln, ob sie modérn sind oder módern ...

Schon bei Paulus findet sich die klassische Formulierung: "Weil ein Brot, sind wir vielen ein Leib; denn alle haben wir an dem einen Brote Anteil." (1 Kor 10,17). Augustinus ermuntert seine Gläubigen: "Man sagt dir: der Leib Christi, und du antwortest: Amen. Sei denn Glied des Leibes Christi, auf daß dein Amen wahr sei!" (Predigt 272, PL 38,1247). Leo der Große sagt es so: "Wenn wir die Kraft der Himmelsspeise empfangen, gehen wir über in das Fleisch dessen, der unser Fleisch geworden ist"(Brief 59,2;PL 54,868). Bei Chrysostomos lesen wir: "Ein Leib sind wir ... nicht nur hinsichtlich der Liebe sollen wir das werden, sondern in der Wirklichkeit selber werden wir in jenes Fleisch (Christi) hinzugemischt" (in Joh, Homilie 46 Nr.3; PG 59,260). Kyrill von Alexandrien spannt beide Seiten der Wahrheit hart auseinander: "Alle sind wir von Natur in unsere Individualität eingeschlossen. Und doch sind wir auf andere Weise auch alle miteinander vereinigt. Gleichsam deutlich getrennt durch persönliche Eigenheiten, nach denen wir einen Petrus, Johannes, Thomas oder Matthäus unterscheiden, sind wir in Christus wie zu einem Leibe verschmolzen, da wir von einem Fleische uns nähren. Ein Geist bestimmt uns zur Einheit, und da Christus einer und unteilbar ist, sind wir alle nur eins in ihm"(in Joh 11,11; PG 74,560).

Johannes von Damaskus spricht sich deutlich aus: "Christi Blut und Leib ... geht nicht in den Abort - nie und nimmer! - sondern in unser Wesen ..." (Über den rechten Glauben IV, 13; PG 94,1152).(Weitere Texte in reicher Fülle siehe bei: De laTaille, Mysterium Fidei, III,1, sowie: De Lubac, Katholizismus als Gemeinschaft, I,3).

Es erübrigt sich wohl, von diesen Texten ein magisches Mißverständnis abzuwehren. Zwischen dem Zentrum Christus und den Gläubigen als seinen Gliedern gibt es neben den sicht- und störbaren "Kommunikationsbahnen" noch andere, die kein Fremder unterbinden kann. Auch ohne sakramentales Zeichen geschieht die Wirklichkeit des Sakramentes, etwa als "geistliche Kommunion" im sibirischen Lager.

Doch sind das Grenzfälle. Bestand und Einheit eines Leibes darzustellen und zu vertiefen, braucht es Leibhaftigkeit. Am Gründonnerstag gedenken wir der geschichtlichen Repräsentation des ganzen Leibes in Jesus, dem sich opfernden Gottmenschen. Wäre dann Fronleichnam nicht eigentlich das Fest des in uns, seinen Gliedern, gegenwärtigen Herren-Leibes, wenn man so will, das Fest des kosmischen Christus? An diesem Tag würden alle Glieder des Leibes, miteinander und jedes für sich, ihre leiblich-personale Selbigkeit als der eine personhafte Sinn der Welt freudig erleben.

Brot und Wein, durch eine unendliche Transformation zur gültigen Repräsentation der vielfach-einen Welt-Person geworden, die jeder von uns im Innersten schon ist: ein solcher Inhalt verdiente ein Fest.Wo sind die Liturgiker, die es uns schaffen?

(Februar 1970; veröffentlicht als Anhang 3 in "Der göttliche Tanz", Nürnberg 1971)


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sowie seinen neuen (seit Ende 2000) Internet-Auftritt Stereo-Denken
samt Geschichte dieses Begriffs und lustigem Stereo-Portrait

Schriftenverzeichnis

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