Jürgen Kuhlmann

Was heißt "Erbsünde"?

I. Der Holländische Katechismus
und die Stellungnahme aus Rom

Zunächst wollen wir anhand exakter Textvergleiche feststellen, worum der Streit im einzelnen geht. Und zwar halten wir uns einzig an die beiden offiziellen Texte. Wie sie entstanden seien, ist jetzt nicht unser Thema; vergleiche darüber z.B. die einschlägigen Berichte in der Herder-Korrespondenz.

1) Die Tatsächlichkeit der Ursünde

a)

Holland: "Wir wissen, daß wir es hier nicht mit Beschreibungen einzelner historischen Fakten zu tun haben. Sie gehen tiefer. In symbolischen Geschichten wird der Kern der ganzen Menschheitsgeschichte beschrieben, auch der künftigen. Adam, das ist der Mensch schlechthin." (294)

Rom: "Es sind keine historischen Erzählungen im Sinne der heutigen Geschichtswissenschaft oder im Sinne der Geschichte, wie sie durch griechische oder römische Geschichtsschreiber geschrieben wurde. Zum Teil haben sie eine symbolische Bedeutung. So gesehen, ist Adam der Mensch schlechthin ... Gott hat sich dieser Erzählung bedient, um uns zwar nicht in Einzelheiten, wohl aber in einzelnen, zentralen Ereignissen etwas mitzuteilen über den tragischen Beginn der religiösen Geschichte der Menschheit." (20 f)

Der Gegensatz springt in die Augen. Zwar erkennt auch R an, daß die Bibelberichte nicht zur Gattung klassischer oder moderner Geschichtsschreibung gehören - doch bleibt es dabei, daß hier im eigentlichen Sinn vom Anfang der Geschichte die Rede ist. Die symbolische Deutung (die also auch den späteren und heutigen Menschen meint) ist nur ein Teil der Gesamtbedeutung. Daneben geht es ausdrücklich um den "Beginn" der Geschichte (21, 22, 39, 44), um "Urereignisse" (21), die "Ursünde" (22), den "Uraufstand" (26, 31),. Alle diese Vokabeln fehlen bei H. Um den Anfang als solchen geht es der Bibel gar nicht. Sogar die künftige Geschichte ist hier schon beschrieben (fehlt bei R).

b)

Holland: "Viermal beschreibt darum die Urgeschichte einen Sündenfall: das Essen von der verbotenen Frucht, den Brudermord, die Verderbnis der Zeitgenossen Noachs, das Erbauen von Babel. Diese Taten sind Symbole unserer großen Sünden." (294 f)

Rom: "Es befremdet darum nicht, daß die Urgeschichte viermal beschreibt, wie die Menschen sündigen: Der erste Ungehorsam, der Brudermord, die Verderbnis der Zeitgenossen Noahs, das Erbauen von Babel." (21)

Für H ist der Sündenfall kein historischer Anfang, kann sich also, als Schritt (relativer)Unschuld zu (relativer) Schuld beliebig oft und in beliebigen Intensitätsgraden wiederholen. R hält statt dessen daran fest, daß nur ein Ungehorsam der erste gewesen sein kann; alle späteren Fälle verdienen den Namen "Sündenfall" im strengen Sinn nicht.

[Weggelassen wird hier: c-g; 2) Das Paradies; 3) Adam und die Sünden der Welt; 4) Die Freiheit]

5) Ergebnis

Wenn wir abschließend die dargestellten Positionen noch einmal überblicken, so ist der Quellpunkt ihrer Gegensätzlichkeit unschwer zu finden. So wie die Erzählung von Paradies und Sündenfall in der Bibel steht, ist sie für die Holländer einfach Symbol eines alltäglichen Geschehens, für die Römer ein mindestens im Kern durchaus historischer Bericht über den Anfang der Geschichte, der alles Weitere zutiefst bestimmt. Der Grund für diese Verschiedenheit dürfte in der unterschiedlichen Perspektive liegen: die Verfasser von H denken primär als moderne Menschen und können darum jenem ersten Menschen, den ihre Phantasie sich roh und voll tierischer Wildheit vorstellt, unmöglich die bedeutsame Rolle des biblischen Adam zuerkennen; die römischen Theologen sind hingegen in der Denk- und Fühlwelt des Dogmas zu Hause und wissen, daß es für einen Katholiken wohl Wege über Trient hinaus, aber keinen hinter Trient zurück geben kann: mag also Adam äußerlich mehr einem Affen als dem idealen Menschen geglichen haben - innerlich war er all das, was das Dogma ihm zuschreibt: "Was für eine Größe unter einem unansehnlichen Äußerem!" (25) Hie geschichtliche Tatsache, dort bloß Mythus und Symbol - ist zwischen solchen Fronten ein echter Friede möglich?

II. Wer ist das eigentlich - Adam?

1. Die Kategorie

Wenn ein Kreis den doppelten Durchmesser eines anderen hat, ist auch sein Umfang doppelt so groß. Man mache den Versuch aber einmal im großen auf unserer Erde, und man wird sich wundern: jene Gruppe von Wissenschaftlern, welche die Durchmesser abmißt, wird mit der anderen, die beide Umfänge vergleicht, in heftigen Streit geraten, - bis sie erkennen, daß obiges Gesetz auf einer Kugelfläche nicht gilt. Sobald eine weitere Dimension hinzutritt, wird immer alles unvorstellbar anders. Ähnlich ist es in der Theologie. Sich streiten ist bequem; denn es erspart das Denken. Nicht jenes "Denken", das sich innerhalb vorstellbarer Dimensionen bewegt, seien deren Inhalte nun die der volkstümlichen Wissenschaft oder die der überkommenen Frömmigkeit. Beide Male läßt sich, ohne Denk-Mühe, gewaltiger Scharfsinn aufbieten, der jedoch am Ende nur immer darauf hinausläuft, daß "die anderen" unbegreiflich dumm und verbohrt sind. Wirklich schwierig wird es erst, sobald die eigentlich theologische Dimension, das offenbarte Geheimnis nämlich, selber thematisch wird.

Ist Adam eine geschichtliche Tatsache oder bloß ein Symbol? Unübersehbar ist die Flut von Literatur, welche klug und unwiderleglich das eine oder das andere beweist, das andere oder das eine lächerlich macht. Daß sie vielleicht gar nicht wüßten, was eine geschichtliche Tatsache und ein Symbol überhaupt ist - auf diesen Gedanken kommen die wenigsten. Ohne ihn zu wagen, werden wir aber die biblischen Aussagen nie so verstehen, wie sie gemeint sind.

Im folgenden bringe ich die eigene Übersetzung eines längeren Textes, in dem unser Problem ausdrücklich behandelt wird. Hier spricht ein wirklicher Denker, man wundere sich also nicht, wenn man die Stelle dreimal lesen muß.

"Die geschichtliche Tatsache Adams und seiner Sünde gehört der Ordnung des Glaubens an und begründet das VORHER ohne Vorher der übernatürlichen Geschichtlichkeit, die diese Ordnung ausmacht. (Das haben die Christen immer zugegeben, auch wenn sie die Besonderheit der Heilsgeschichte nicht klar unterscheiden). Eine solche Zugehörigkeit macht diese Tatsache nicht minder objektiv oder minder geschichtlich als jedes andere Ereignis der Menschheits- oder Naturgeschichte - im Gegenteil . Da diese beiden Geschichtlichkeiten Grund, Prinzip und Ziel allein in der übernatürlichen Geschichtlichkeit haben, deshalb hängt die objektive Wahrheit aller Tatsachen, um welche unsere kritischen Historiker sich bemühen, fern oder nah letztlich von der Objektivität dieser ersten geschichtlichen Tatsache ab. Ein solcher Satz mag die erstaunen, die es für hinreichend halten, wenn sie ihr 'die Erhabenheit eines Mythus' oder die Wahrheit eines Symbols zuerkennen; dabei übersehen sie, daß die Adamssünde überdies konstitutiv für unser geschichtliches Bewußtsein ist, und insofern die erste Bedingung seiner Objektivität. Wie alle anderen Kategorien der Vernunft, ist sie uns nie als solche, im reinen Zustand gegeben, ebenso wenig wie das z.B. der Raum , die Zeit, die Bewegung usw. für das Bewußtsein des Wissenschaftlers sind. Wer würde jedoch daraus zu schließen wagen, daß diese Kategorien nicht objektiv seien, oder es weniger seien als die dank ihrer bestimmten Maße der Sinnendinge? Ebenso ist es beim Historiker: die Wahrheit der Daten, die er zu erstellen und zu verstehen sucht, sei es in der menschlichen oder der natürlichen Ordnung, läßt sich bewerten und begründen nur dank einer umfassenden Sicht des Menschen als Sein-in-der-Welt und im besonderen der fundamentalen Beziehung seiner Freiheit zur Welt sowie zu Gott. Adam als konstitutive Kategorie der Geschichtlichkeit zu definieren heißt überdies keineswegs, seine Wirklichkeit zu schmälern um seine Objektivität sicherzustellen. Denn die Wirklichkeit dieser Kategorie umfaßt nicht weniger als die bei den wesentlichen Elementen aller menschlichen Geschichtlichkeit: den Vollzug einer Freiheit, die sich setzt, und die Sprache, die den Sinn einer solchen Setzung ausdrückt - wobei ihre Einheit nur innerhalb einer ebenso offenbarten wie offenbarenden Tradition bestehen kann. Der Philosoph oder Theologe auf der Suche nach dem Verständnis seines Glaubens spricht von ‚Kategorie', wo der Gläubige einfach 'geschichtliche Tatsache' sagt - wie übrigens auch die Dokumente des Lehramts, dem es mehr darum geht, den Inhalt des Glaubens zu bestimmen als seinen erkenntnistheoretischen Status zu verdeutlichen. Beide Redeweisen schließen sich nicht nur nicht aus, sie bekräftigen einander sogar." (Gaston Fessard SJ, La dialectique des exercices spirituels (II), Paris 1966, 94 f, Anm. 2).

Adam ist also (zusammen mit Maria und Christus, dürfen wir ergänzen) die Fundamentalkategorie der Geschichte. Ohne ihn ist jedes geschichtliche Ereignis ebenso unverständlich wie das Jahr 1970 ohne den Begriff Zeit oder der Ort Nürnberg ohne den Begriff Raum. So wenig "Zeit" und "Raum" als solche bestimmte empirische Perioden oder Orte sind, so wenig ist der biblische Adam mit einem unserer affenähnlichen Vorfahren schlechthin identisch. So wenig andererseits "die Zeit" oder "der Raum" bloß mythische Symbole sind, so wenig ist Adam ein solches.

Ebenso müssen wir uns vor dem Mißverständnis hüten, die Grundkategorien mit gewöhnlichen Allgemeinbegriffen zu verwechseln. Ohne hier auf das knifflige Universalien-Problem einzugehen, läßt sich doch mindestens so viel feststellen, daß "die Zeit" in jeder bestimmten Zeit um vieles wirklicher anwesend ist als etwa "der Stuhl als solcher" in einem einzelnen Stuhl; ebenso ist "der Raum" hier oder dort mehr da als "die Idee des Weißen" in diesem weißen Papier. Ähnlich nun, so sagt Fessard mit Recht, ist der "Adam" unseres Glaubens anderes und mehr als bloß der Allgemeinbegriff "der Mensch". So, wie die Zeit vor jeder einzelnen Zeit ist und sie bestimmt, ähnlich läßt sich verstehen, wie Adam vor jedem einzelnen Menschen ist, eben der Urmensch im eigentlichen Sinn.

2. Die Information.

Doch bleibt dieses Verständnis noch reichlich dunkel. Wird hier nicht doch bloß mit Begriffen gespielt? Was ist die Wirklichkeit einer Kategorie denn nun eigentlich? Ist sie, abgesehen von ihren Einzelverwirklichungen, denn überhaupt etwas? "Die Zeit" und "der Raum" - was bleibt von diesen Kategorien, sobald wir von allem Zeitlichen und Räumlichen absehen? Sind sie mehr als Hirngespinste unbeschäftigter Philosophen?

Wir leben in vielen Hinsichten in einer bemerkenswerten Zeit. Einer ihrer erstaunlichsten Züge ist noch kaum in ein weiteres Bewußtsein gedrungen: jener Idealismus, der ehedem das Vorrecht der unrealistischen Spekulanten war, er ist heute zur unbestreitbaren Grundlage der allermodernsten Wissenschaft geworden! In der Kybernetik feiert Plato ungeahnte Triumphe. Sollte die Theologie nicht die spöttische Nachhut der Wissenschaft von gestern ungerührt sich selbst überlassen und statt dessen erfreut ihre Verwandtschaft mit jenem Denken zur Kenntnis nehmen, welches morgen herrschen wird?

Adam und seine Sünde ist weder eine historische Tatsache im üblichen Sinn noch bloß eine symbolische Ausgeburt des frommen Bewußtseins, vielmehr eine unableitbare Grundkategorie. Behalten wir diese verwirrende Behauptung im Sinn, wenn wir uns jetzt einem Text zuwenden, der scheinbar überhaupt nichts mit unserem Thema zu tun hat.

Was ist eigentlich ein Telegramm? Ist es das Papier, auf dem der Absender es aufschreibt? Natürlich nicht; denn das Telegramm wird ja übermittelt, dieses Papier aber nicht. Aus demselben Grund ist auch das so und so bestimmte Bewußtsein des Absenders nicht das Telegramm. Ein solches ist mithin weder eine greifbare äußere Tatsache noch ein Bewußtseinsinhalt. Und doch ist es offenbar nicht Nichts; denn nicht von und für nichts leben die Tausende von Menschen, die täglich Telegramme übermitteln. Vielmehr ist das Telegramm wesentlich eine Information. Was aber ist Information?

"Wir werden die Frage nach dem Wesen der Information nicht erschöpfend beantworten, aber wir können sie ein Stück weit fördern, Und wir wissen von Sokrates, wie uns die Frage nach dem, was eine Sache eigentlich ist, weiterbringen kann, auch wenn wir sie zuletzt ungelöst zurücklassen müssen. Dies verstanden zu haben, kennzeichnet ja den, der sich nicht Sophos, Weiser, sondern nur Philosophos, Liebhaber der Weisheit, zu nennen wagt.

Ich sagte soeben: ‚das Telegramm ist oder enthält Information'. Warum das ‚oder'? Ich wußte offenbar nicht, ob das Telegramm die Information selber ist oder nur enthält. Wir Menschen eines von den Begriffen Descartes' dominierten Zeitalters werden etwa fragen: ‚Was bezeichnet das Wort Information? Ein materielles Ding, etwa die Druckerschwärze auf dem Telegrammzettel, oder einen Bewußtseinsinhalt, also das, was ich denke, wenn ich das Telegramm lese?' Diese Frage hat die Informationstheoretiker unserer Tage beunruhigt, und sie sind zu dem sie vielleicht noch mehr beunruhigenden Ergebnis gekommen: Keins von beiden. Information ist weder ein materielles Ding noch ein Bewußtseinsinhalt. Beide Deutungen scheitern an dem, worum willen der Informationsbegriff überhaupt eingeführt worden ist, an dem objektiven Charakter der Information. Nehmen wir an, die Druckerschwärze auf dem Zettel sei die Information Dann ist das, was ich in Hamburg niedergeschrieben habe, als ich das Telegramm aufgab, und das was der Empfänger hier in München in die Hand bekommen hat, nicht dieselbe Information, denn es sind verschiedene Zettel, Information ist gerade das, was beiden Zetteln gemeinsam ist.

Nehmen wir an, der Denkvorgang in der Seele des Menschen, der den Inhalt des Telegramms denkt, sei die Information. Dann ist das, was ich gedacht habe, als ich das Telegramm aufgab, eine andere Information als das, was der Empfänger gedacht hat, als er das Telegramm empfing. Nicht unser jeweiliger Bewußtseinsakt, sondern das, was dieser Bewußtseinsakt weiß, ein beiden, sonst so verschiedenen bewußten Personen Gemeinsames, ist die Information.

Man beginnt sich daher heute daran zu gewöhnen, daß Information als eine dritte, von Materie und Bewußtsein verschiedene Sache aufgefaßt werden muß. Was man aber damit entdeckt hat, ist an neuem Ort eine alte Wahrheit. Es ist das platonische Eidos, die aristotelische Form, so eingekleidet, daß auch ein Mensch des 20. Jahrhunderts etwas von ihnen ahnen lernt." (Carl Friedrich von Weizsäcker, Sprache als Information, in: Sprache und Wirklichkeit, dtv Nr. 432, München 1967, S. 187 f).

Die so verstandene Information scheint genau die Antwort auf unsere Frage zu sein, was "Adam" eigentlich sei. Verbinden wir sie mit der vorigen, so ergibt sich: "Adam" ist weder bloß historische Tatsache noch mythisches Symbol, sondern eben jene Kategorie, als welche uns die grundlegende Information über die menschliche Geschichte erreicht. Kurz: ohne die Kategorie "Adam" gibt es für uns keine Information über das, was der geschichtliche Mensch letztlich ist.

3. Die Offenbarung.

Haben wir aber bisher dem Mythus, dem Symbol nicht unrecht getan? Können uns die römischen Theologen nicht vorwerfen, wir trieben bloß Künsteleien, um uns vom mythischen Verständnis Adams abzugrenzen, blieben aber dennoch darin hängen? Schließlich sei eben das der Sinn aller Mythen: Grundkategorien des Daseinsverständnisses zu liefern, den Menschen Informationen über sich selbst zu vermitteln.

Daß der Mythus das will, ist richtig. In Frage steht aber nicht nur, wie weit er es inhaltlich erreicht, sondern viel ursprünglicher: wer ist beim Mythus der Informant? Eine Information kann zwar lange Wege gehen und dabei oft die Gestalt wechseln: immer steht doch am Anfang einer der sie gibt und am Ende einer, der sie empfangen soll. Kommunikationsmittel zu sein, das ist das Ziel jeder Information. Um zu verstehen, was Adam dem Katholiken bedeutet, muß man glauben, daß es so etwas wie Offenbarung gibt, d.h. Information Gottes an uns. Wir glauben, daß die Adamsgeschichte wie auch das Erbsündendogma eine solche Offenbarung enthält. Das unterscheidet sie grundsätzlich vom bloßen symbolischen Mythus. Ein solcher läßt sich bestenfalls so definieren, wie die Modernisten die Offenbarung verstanden, als "das Bewußtsein, das die Menschen von ihrer Beziehung zu Gott erlangt haben" (Dekret "Lamentabili" Nr. 20, D 2020). In den verschiedenen Mythen drücken sich gewissermaßen die Zweifel und Hoffnungen des Mädchens Menschheit aus, die am Wegrand sitzt und Blütenblätter zupft: er liebt mich, er liebt mich nicht.

Auch das ist zwar eine Art von Information, die zum Teil sogar inhaltlich stimmt; doch fehlt gerade das, was die Offenbarung kennzeichnet: daß sie nämlich von Gott selbst ausgeht. Ganz anders fühlt sich das Mädchen, wenn der Postbote den langersehnten Brief bringt, die Information nicht mehr bloß über ihn, sondern von ihm!

In diesem Sinn ist die Geschichte des Sündenfalls mehr als ein Symbol. Ein Symbol stünde zur Verfügung der Menschheit; was sie sich ausgedacht hat, darf sie auch umdenken, neu fassen oder sogar vergessen. Anders Adam. Er ist die Grundkategorie, ohne die es für uns kein Verständnis unser selbst gibt. Gewiß ist sie nicht eindeutig. Es gehört zum Wesen einer Information, daß sie zuweilen mehrere Deutungen zuläßt, eben weil sie nicht schlechthin ein Bewußtseinsinhalt ist sondern das, was dem aufnehmenden Bewußtsein objektiv "vorliegt". Was haben die Menschen nicht alles schon in der Paradiesgeschichte gelesen! Je nachdem, wie nahe sie dabei dem kamen, was ihre Verfasser sagen wollten, hatten sie mehr oder weniger recht. Unabhängig jedoch davon, wie er in den verschiedenen Lesern sich darstellt, ruht Adams Wahrheit in ihr selbst, obwohl sie, da Adam kein empirisches Subjekt ist, nur darin besteht, wie er für uns da ist. Denn jede Information ist wesentlich "von dem einen für den andern": solcherart von Gott für uns zu sein, das ist die Art, wie Adam, der Urmensch samt seiner Sünde, auf die wahrste Weise wirklich ist.

4. Das Urgeschöpf

Aber aufs Neue erhebt der Zweifel sein Haupt. Heißt es nicht den Worten Gewalt antun, wenn man sagt, es habe Adam wirklich gegeben, wo er doch bloß Inhalt einer göttlichen Offenbarung ist? Kann ein Mensch wirklich sein, ohne in sich selbst wirklich und seiner selbst auf einmalige Weise bewußt zu sein? Natürlich nicht. Alles das ist Adam gewesen, als erster aller Menschen, und trotzdem läßt sich von ihm nicht sagen: hier und da hat er gelebt, und sonst nicht. So, wie die Zeit nicht weniger wirklich ist als heute 4 Uhr, so wie der Raum nicht weniger wirklich ist als mein Zimmer hier, so ist auch Adam, die Grundkategorie der Geschichte nicht weniger wirklich als du und ich. Wie ist das zu verstehen?

Es ist nicht schwer zu verstehen. Allerdings muß man bereit sein, scheinbare Selbstverständlichkeiten preiszugeben, vorab jenen Wahn, als bestehe kein wesentlicher Unterschied zwischen der Weltsicht des Schöpfungsglaubens und derjenigen der Tageszeitung. Diese ist uns allen geläufig, zu jener müssen wir uns immer wieder mit Mühe zurückfinden. Innerhalb dieser ist Adam höchstens eine Witzfigur. Was ist er aber für den denkenden Glauben?

"Wie sich eines Künstlers Verstand zu den Kunstwerken verhält, so der göttliche Verstand zu allen Geschöpfen. Deshalb läßt sich jede geschöpfliche Natur betrachten, 1) sofern sie im göttlichen Verstand ist, 2) sofern sie ein abstraktes Wesen ist, 3) sofern sie in den Dingen selbst oder in eines Engels Geist verwirklicht ist, 4) sofern sie in unserem Verstand ist." (Thomas v. Aquin, Quodl. VIII q1 a1 c). Bekanntlich hat Thomas seine berühmte Summe als Schulbuch für Anfänger verfaßt. Dieses Zitat stammt hingegen aus einer seiner gelehrten Schriften. Es sollte jedem gläubigen Kybernetiker das Herz höher schlagen lassen. Vielleicht läßt es sich, über die Jahrhunderte hinweg, mit folgendem Beispiel erläutern:

Eben hat der Erfinder, sagen wir, den Transistor erfunden. Nichts anderes gibt es für ihn, voller Begeisterung sagt er jedem, der es hören will: ich hab's. Nie hat der Transistor ein so gewaltiges Leben geführt wie in jenen Stunden, im Bewußtsein seines Erfinders (1). Dann geht er daran, einen herzustellen. Er bastelt herum; das erste Ergebnis ist noch recht kläglich, doch wichtig ist nur das Eine: es funktioniert (3). Dann gibt er, ohne seine Idee zu verraten, das Ding einem Assistenten, er solle herausbringen, was das sei. Der untersucht, forscht, denkt und findet endlich das Wirkprinzip (4). Inzwischen hatte der Erfinder aber schon seine Idee zu Papier gebracht und diese Information, die keinerlei Einzelheiten, sondern allein das Prinzip enthält, veröffentlicht (2).

Wie rechtfertigt sich die von Thomas gewählte Rangfolge der Wirklichkeitsweisen einer Idee? Für den oberflächlichen Blick ist (3) das einzig Wirkliche, alles andere "sind ja bloß Ideen". Wer tiefer denkt, erkennt jedoch, daß Thomas (der hier als Platoniker spricht) recht hat: am wirklichsten ist der Transistor im Augenblick, da er erfunden wird: alle später gebauten Geräte und alle Lehrbücher über ihn sind nichts weiter als sekundäre Folgen dieser lebendigen Idee. Am zweitwirklichsten ist die Idee als reine Information, abgesehen sowohl vom Bewußtsein des Erfinders wie auch von ihren einzelnen Verwirklichungen. Denn insofern ist sie noch unvermischt mit empirischer Zufälligkeit. Dieser "Transistor als solcher" enthält noch alle die verschiedensten Möglichkeiten, wie er im einzelnen verwirklicht werden kann, er ist nicht auf eine bestimmte Form oder Größe festgelegt. Wenn der Fachmann wissen möchte, was ein bestimmtes elektrisches Gerät "wirklich ist", dann hält er sich lieber an den Schaltplan des Herstellers als bloß an das Ding selbst: denn auf die Weise der Information ist die Wahrheit des Gerätes besser verwirklicht als in dem empirischen Material, das mit all seinen Unwesentlichkeiten und Fehlern dasteht. Am drittwirklichsten ist die Idee in irgendeiner ihrer tatsächlichen, bestimmten Verwirklichungen - oder im Bewußtsein des Fachmanns, der den Schaltplan mehr oder minder gut verstanden hat; beide Male geschieht ein Übergang von der wesentlichen, unfehlbaren Information zu einer zufällig-fehlbaren Seinsweise der Idee. Am viertwirklichsten endlich ist die Idee im Bewußtsein eines Lehrlings, der das Gerät ohne die Hilfe des Schaltplans verstehen muß; hier besteht an zwei Stellen die Möglichkeit der Beschränkung und Verfälschung: beim Schritt von der reinen Information zur bestimmten Verwirklichung und auf dem Weg von dieser zum bestimmten Verständnis.

Wenden wir dieses technische Gleichnis nun auf unser Thema an. Am wirklichsten ist der Mensch, sofern er eine Idee im göttlichen Bewußtsein ist (1). Diese Idee ist die tiefste, innerste Wahrheit eines jeden von uns. Sie ist nur eine; insofern meint jeder von uns im strengen Sinn nicht bloß das gleiche, sondern dasselbe, sooft er oder sie "ich" sagt. Am zweitwirklichsten ist Adam, der Mensch, als reine Information, als Offenbarung des Schöpfers (2). Am drittwirklichsten ist der Mensch in einem jeden einzelnen Menschen, wo Adam so oder so empirisch ausgeformt ist (3). Am viertwirklichsten ist der Mensch, insofern er als Bild und Erkenntnisgegenstand in seinem eigenen Bewußtsein vorkommt (4).

So, wie Adam und Eva uns im Bericht der Genesis gegenübertreten, sind sie eine Mischung aus (2) und (4). Denn die göttliche Offenbarung tritt in der Geschichte nie rein auf, sondern immer in Gestalt menschlicher Erkenntnisse. Um im Gleichnis zu bleiben: es liegt uns zwar der originale Schaltplan vor, wir wissen aber zugleich, daß Generationen von Lehrlingen mit derselben Tinte darin herumgezeichnet haben. Um die Idee des Schöpfers, das heißt die Wahrheit, möglichst rein zu erkennen, genügt es also weder, den überkommenen Schaltplan allein, noch auch, die vielfach beschränkten und fehlerhaften Einzelexemplare allein zu studieren. Sondern nur im dauernden Gespräch zwischen Tradition und Erfahrung kann die jeder Epoche zugedachte Wahrheit über den Menschen gefunden werden.

5. Friede zwischen Holland und Rom

Bevor wir uns des näheren inhaltlich auf dieses Programm einlassen, müssen wir versuchen, holländische und römische Wahrheit miteinander auszugleichen; denn nur so wird die Basis für eine radikal neue Interpretation der Erbsünde breit genug. Am besten nehmen wir den holländischen Text zur Grundlage; nur er entspricht der Mentalität unserer Zeit. Wie muß er ergänzt werden, damit auch dem Dogma sein Recht geschehe? Vergegenwärtigen wir uns noch einmal den Text der Kardinalskommission:

"Wenngleich die Fragen über den Ursprung des Menschengeschlechtes und seinen langwierigen Fortschritt bewirken, daß das Dogma der Erbsünde heute neue Schwierigkeiten mit sich bringt, so ist trotzdem im Neuen Katechismus getreulich die Lehre der Kirche vom Menschen vorzulegen, der bei Beginn der Geschichte sich gegen Gott auflehnte, so daß er für sich selbst und für seine gesamte Nachkommenschaft die Heiligkeit und Gerechtigkeit, in die er gesetzt war, verlor und einen wahren Sündenzustand durch die Fortpflanzung der menschlichen Natur auf alle übertrug. Bestimmt zu vermeiden sind Darlegungen, die den Eindruck erwecken können, die Erbsünde werde von den neuen Gliedern der Menschenfamilie nur dadurch zugezogen, daß sie von ihrem Ursprung an dem Einfluß der menschlichen Gesellschaft, in der die Sünde herrscht, innerlich unterliegen und so von Anbeginn an auf dem Wege der Sünde sich befinden." (S. 20)

Der erste Nebensatz ("wenngleich ... mit sich bringt") bringt jenes beiden Seiten gemeinsame Mißverständnis zum Ausdruck, als hätten Adam und die Erbsünde irgend etwas mit dem empirischen, zeitlichen Anfang des Menschenlebens auf dieser Erde zu tun. Solange man darüber nicht hinwegkommt, bleiben Theologie und Geschichte ebenso unversöhnbar wie Theologie und Astronomie zur Zeit Galileis. So wenig die Offenbarung uns aber über das Verhältnis dieser Erde zu dieser Sonne sagen will, so wenig lehrt sie uns über die ersten täppischen Schritte der Spezies Mensch auf diesem Planeten. Insoweit haben die Holländer mehr rech als die rührenden römischen Versuche, dogmatisch einwandfreie Gemälde jener Zeit zu entwerfen ("in dem adamischen Volk kann es Menschen gegeben haben, die unschuldig geblieben waren"; S. 43). Doch drückt auch die neue Theologie sich insofern unglücklich aus, als sie ebenfalls Adam irgendwie noch im Hinblick auf den empirischen Urmenschen versteht (weil der Katechismus sich an traditionell erzogene Katholiken wendet, war diese Methode natürlich gar nicht zu vermeiden) und ihn dann, im Gegensatz zu diesen, als bloßes Symbol hinstellt. Nur so konnte es zu jenen Sätzen kommen, die dem Dogma stracks zuwiderlaufen und nicht nur in Rom soviel Anstoß erregt haben: "Die wirkliche Einheit des Menschengeschlechtes verlegt die Schrift nicht in die Abstammung, sondern in die Berufung durch den einen Vater ... Die Sünde, die andere ansteckt, ist nicht durch einen Adam am Anfang der Menschheit begangen worden, sondern durch Adam, den Menschen, jeden Menschen." (300) Ähnlich könnte ein Jüngling seinem Mädchen sagen: Natürlich gehört mein Herz nicht dir; (denn wenn du aufpaßt, kannst du es noch in meiner Brust spüren ... Dabei hinkt dieser Vergleich beträchtlich; denn das verschenkte Herz ist tatsächlich ein bloß menschliches Symbol - Adam hingegen eine offenbarte Grundkategorie. Die Kardinäle fahren fort: "bei Beginn der Geschichte". Mittlerweile ist uns klar, daß es sich hier nicht um den empirischen Beginn der Menschheit vor x-mal hunderttausend Jahren handelt - was immer die Kardinäle gedacht haben mögen. Das ist unerheblich. Ihr Amt ist es, die Botschaft rein zu erhalten, nicht sie zu verstehen. So wie die Raumfahrt nicht dort und damals begann, als die erste kleine Rakete startete, sondern in dem Augenblick, als zum ersten Mal ein Mensch genau wußte, wie es gehen würde und daß er es wollte: so fand auch der Beginn der Menschheitsgeschichte weder in irgendeinem Vormenschen noch im Homo Faber, noch im Homo Sapiens noch im Homo Orans statt, vielmehr in jenem Menschen, den Gott sich vor aller Zeit schon ausgedacht hat und über dessen Verhalten und Schicksal er uns im Bericht der Genesis das Wichtigste mitteilt. Wer diesen Beginn der Geschichte unwirklich nennen möchte, weiß wirklich nicht, wovon er redet. Dieser Mensch "lehnte sich gegen Gott auf." Auch gegen Gottes Plan? Das zu behaupten dürfte kein Theologe wagen. O felix culpa ...

"Er verlor die Heiligkeit für sich selbst und seine gesamte Nachkommenschaft." So wie alle Transistoren Nachkommen jenes ersten sind, den sein Erfinder sich ausgedacht hat, ebenso stammen alle Menschen von Adam ab. "Die Kirche bleibt der monogenistischen Sicht verhaftet" (S. 43) und tut recht daran - nur hat dieser Monogenismus rein gar nichts mit dem naturwissenschaftlichen Problem gleichen Namens zu tun, um so mehr dafür mit dem monogenès parà patròs (Joh 1,14), dem zweiten Adam. Selbst wenn Zulus und Eskimos sich auf verschiedenen Wegen aus dem Tierreich herausentwickelt haben sollten, würden sie trotzdem wirklich vom selben Adam abstammen.

"Auf diese Weise wurde durch die Fortpflanzung der menschlichen Natur ein wahrer Sündenzustand auf alle übertragen": ähnlich wie alle Plattenkopien, die von einem zerkratzten Original gefertigt werden, ebenfalls zerkratzt sind. Somit liegt der letzte Grund für die Sündigkeit der Einzelmenschen nicht in der verdorbenen Gesellschaft, die sie allseits umgibt, sondern in ihrer (transzendentalen) Abstammung von ihrem einzigen Urbild "Mensch". Wir alle sind den konservativen Theologen Dank schuldig, daß sie sich gegen die Verharmlosungstendenz gewandt haben, die aus manchen Sätzen des Holländischen Katechismus spricht. Was würden uns etwa Hindus und Buddhisten sagen, wenn sie erfahren müßten, nach der neueren christlichen Anschauung sei das Individuum nur deshalb schuldig, weil die Menschen in seiner Umgebung es durch ihr schlechtes Beispiel von Grund auf angesteckt hätten? Setzte diese Lehre sich durch, dann wäre zu guter Letzt auch noch die Kirche dem seichten Optimismus einer gewissen europäischen Aufklärung erlegen - und das zu einer Zeit, da die ungläubige Welt die rosa Brille schon längst wieder mit der schwarzen vertauscht hat!

Man sieht: das römische Dekret läßt sich sehr wohl auf eine Weise auslegen, die sowohl seinem positiven Wortlaut gerecht wird als auch dartut, daß es gegenüber gewissen Einseitigkeiten des Holländischen Katechismus wichtig und nötig war. Damit unsere Interpretation haltbar sei, müssen wir freilich einen Gedanken annehmen, der wohl für alle christlichen Ohren zunächst ungeheuerlich klingt: daß nämlich "der Mensch" bereits als Urbild, also vor jeder empirischen Verwirklichung als dieser und jener Mensch, das heißt in Gottes Plan selber, ein Sünder ist. Darf man das sagen? Mir scheint, man muß es sagen.

1970


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