Jürgen Kuhlmann
Kommt in der Aida Verdi vor?


Einer etwas anderen Predigt nachsinnend, erblicke ich auf der Straße ein Stück Kirchenzeitung. Weil ich solche Zufälle achte, hebe ich das Blatt auf und überfliege im Bus den Text der neuesten römischen Bulle »zum Schutze des Glaubens«. Erstaunlich, wie der vatikanische Verfasser sich den vorstellt. Da werden, gegen Jesu klarste Worte (»Ich aber sage euch, ihr sollt überhaupt nicht schwören«, Mt 5,34), allerlei Schwüre verlangt; da sei vor dem Lehramt, auch wo es nicht unfehlbar auftritt, demütig zu kuschen - jeder Gläubige weiß, was das sog. ordentliche Lehramt schon alles für Widersinn gelehrt hat! Nein, dieser Text ist nicht hilfreich, hier redet Petrus zwar laut Mattäus 16, aber nicht Vers 18 sondern Vers 23, nicht als Grundstein sondern als Stolperstein ... wo ist ein Abfallkorb?

Wie schön, daß der Glaube sich selber schützt! Jene Predigt läßt mich nicht los. In vatikanischer Sprache war es gar keine Predigt; während der Glaubensfeier einer Studentengemeinde im Sommer 1998 hatte einer der jungen Leute schlicht seinen ganz persönlichen Glauben bezeugt. Wie die Vögel singend ihre Freiheit bejubeln, daß sie fliegen können, so drücken wir Menschen singend, malend, dichtend die Freude über unsere Freiheit aus, die uns denken läßt. Einer der allerfreiesten Menschen war Jesus. Schade nur, daß er - obwohl doch kein Mensch von Gott wirklich wissen kann - seine Freiheitsbotschaft mit soviel Autorität beschwert hat. In diesem Punkt, sagte der Student, könne er Jesus nicht folgen; ja bis heute wisse er nicht einmal, ob es Gott gibt. Das sei aber auch nicht wichtig. Er selbst könne gut mit der Idee leben, Gott sei von uns ausgedacht, um unserem Glauben an den wunderbaren Sinn des Ganzen eine Gestalt zu geben. Worauf es ankommt, ist nur eins: daß jeder sich anstrengt, die von Jesus uns vorgelebte Freiheit zur Güte gleichfalls in sich wachsen zu lassen.

Beim Gespräch nach dem Gottesdienst hielten viele Zuhörer diese »Predigt« für ein starkes Stück, in beiden Bedeutungen des Ausdrucks. Es sei gut gewesen, die tatsächlichen Gedanken auch anderer einmal offen zu sagen - dürfe man denn aber in der Kirche so reden, sei das nicht allzu verwirrend?

Meine eigene Reaktion verstehe ich erst allmählich. Lag es an der langgeübten, fast schon »fest verdrahteten« Bewußtseinsschaltung »Predigt«, daß ich sogar den Kernsatz »Ob es Gott gibt, weiß ich nicht« vertrauensvoll als einen möglichen Ausdruck des unfehlbaren Christenglaubens annahm und entsprechend interpretierte? Vermutlich war es so. Jedenfalls war mir klar: Ja, der Junge hat recht. »Ob es Gott gibt« - so klobig formuliert, ist das ganz einfach eine falsche Frage, deren Antwort wahrhaftig niemand weiß. »So wie den Bodensee gibt es Gott nicht«, welcher berühmte Theologe das gesagt hat, ist mir entfallen, die Sache ist aber klar. In der Oper Aida tritt keine Figur namens Verdi auf; zusätzlich zu den x endlichen Personen, die das Universum bevölkern, existiert auf keinem Planeten, noch zwischen ihnen, jene mysteriöse Person x+1, Gott genannt. So wenig es, zusätzlich zu den y Zellen meines Leibes, irgendwo in ihm die Zelle y+1 gibt, mein Ich. Wohl halte ich mich für wirklicher als mein Haar da und meinen Fingernagel hier. So glaube ich, daß Gott wirklicher ist als alles was es gibt. Besser: Zu DIR mich im Gebet wendend bin ich überzeugt, daß es nirgends einen Ihn oder ein Es DEINes Namens gibt. Es gibt Gott nicht, aber DU gibst DICH uns.

Als so falsch die Frage sich schließlich erweist, so notwendig ist sie. Diese Einsicht verdanke ich einem anderen jener Studenten. Ein Techniker aus Sumatra meinte: Sooft eine falsche Frage sich tatsächlich stellt, muß sie ehrlich gefragt werden, sonst entwickelt sich nie das Verständnis, warum sie falsch ist und welche echte Frage in ihr steckt.

Seltsame Situation! In den Worten dieser jungen Christen begegnet mir Jesu Geist, nicht so in den juristischen Floskeln des römischen Dokuments. Anderseits ist schwer vorstellbar, daß ein Bischof mit Stab und Mitra ebenso predigt: »Liebe Gemeinde, ob es Gott gibt, weiß ich nicht.« Wie läßt diese Diskrepanz sich christlich verstehen?

Mir scheint: Weder metaphysisch noch scholastisch, wohl aber heilsgeschichtlich. Den Schlüssel finde ich in einem berühmten Satz des Briefes, den der Martyrer Dietrich Bonhoeffer am 30. April 1944 aus der Gestapohaft schrieb: »Die paulinische Frage, ob die Beschneidung Bedingung der Rechtfertigung sei, heißt m.E. heute, ob Religion Bedingung des Heils sei.« Die Antwort des Paulus ist bekannt: Nein. Bonhoeffer vermutet also: Ähnlich wie damals ein Heide nicht erst Jude werden mußte, um Christ zu sein, so kann ein religionslos denkender Mensch heute im heilenden Licht des christlichen Glaubens leben, ohne daß er das traditionelle Weltbild der Frommen übernehmen muß.

Wie aber? Hat nicht Jesus zu seinem Vater gebetet und eben dieses Gebet auch den Seinen aufgetragen? Darf man da - wie ich es aus dem Mund eines evangelischen Theologen hörte - Jesu Gottesverständnis auf derselben Linie wie seine wahrscheinliche Ansicht sehen, daß die Erde eine Scheibe sei: überkommen halt, nicht hinterfragt, heute aber überholt und für uns nicht verbindlich?

So einfach ist es nicht. Zum Fortschritt der Wissenschaften steht der Gegensatz zwischen Religion und Gottlosigkeit quer. Für eine Scheibe hielten auch antike Atheisten die Erde; auch unter modernen Astronomen glauben manche an Gott. Der Widerspruch zwischen religiöser und unreligiöser Denkart ist Ausdruck einer in sich zeitlosen Polarität, die sich allerdings heilsgeschichtlich entfaltet hat. Wahr ist allein die vernünftige Einheit beider Pole; weil sie den haben wollenden Verstand überfordert, deshalb kommt das Denken - sei es der Menschheit insgesamt, sei es des Einzelnen - so lange nicht zur Ruhe, wie es alles entweder aus Gott oder ohne Gott zu erklären sich anmaßt. Ohne Gott läßt sich der Sinn des Ganzen nicht verstehen, aus Gott nicht die menschliche Freiheit, erst recht nicht das Böse.

Wie religiöser und unreligiöser Wahrheitspol einander kritisieren, wie des einen Überzeugungskraft das Mißverständnis des andern vertreibt, das ergibt, im Kleinen, die unfaßbare Buntheit der geistlichen Lebensläufe. Im Großen hat die Menschheit hier zwei entscheidende Revolutionen erlebt. Von der ersten berichtet eine Jüdin:

»Durch dies Volk hat zum erstenmal in der Menschengeschichte das Unendliche mit dem Endlichen sich in Beziehung gesetzt, ist es aus Nacht und Schweigen als der Unendliche hervorgetreten, der durch seinen Anruf den Bund mit dem endlichen Wesen Mensch geschlossen hat, aus dem den Völkern die Gestalt ihres Heils entsprang.« (Margarete Susman, Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes, Freiburg [Herder-Bücherei Nr.318] 1968,72)

Jesus hat diese erste Revolution vollendet und die zweite in Gang gesetzt. Die erste vollendet, weil dank dem Juden Jesus, der seinem Gott bis zuletzt treu blieb, Israels Wahrheit zur Menge der Völker gekommen ist: durch die Kirche, das Neue Israel. Neu nicht in dem Sinne, als wäre das alte abgetan, auf diesen arroganten Irrtum hat die Christenheit seit Hitlers Judenmord zu verzichten gelernt. Das Neue Israel ist die Kirche nicht statt des Judentums sondern mit ihm zusammen: weil sie die Autorität von Israels einzigem Gott vor den Völkern verkündet. Sofern ein Bischof als Hoherpriester des Neuen Israel auftritt, darf er Gott nicht leugnen, auch nicht an Ihm zweifeln, das zerbräche die heilsgeschichtliche Polarität, betröge das gläubige Volk um eine Klarheit, die ihm zusteht. DEIN Einbruch in die sinnlose Weltgeschichte, jene erste Revolution, darf nie aufhören. Jesu Gemeinde, das Neue Israel, ist auf Petrus fest gegründet, die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen.

Zugleich hat Jesus die zweite Revolution in Gang gesetzt. »Den Alten ist gesagt worden (im Namen Gottes!) - ICH aber sage euch ...« Freiester der Freien, stellt der Menschensohn sich wider das verdinglichte, versteinerte Religionssystem seiner Zeit. »Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat.« »Er hat Gott gelästert,« den Gott der Pharisäer und Schriftgelehrten, der von interessierten Kreisen zu einem begreifbaren Schlußstein und Oberchef des religiös gedeuteten Weltgebäudes zurechtgemacht worden war, in Israels Sprache: zu einem Götzenbild. Zu Philippus sprach dieser junge Mann, der eben noch seinen Freunden die Füße wusch (Joh 14,9): »Wer mich sieht, sieht den Vater! Wie sagst du: zeig uns den Vater?« Karl Rahner war überrascht (und dagegen), als ich ihm vorschlug, in diesem Satz ein Evangelium für Atheisten zu sehen.

So hat er aber gewirkt. Die zweite Revolution, von Israels Propheten vorbereitet und von Jesus vollzogen, hat sich durch die Jahrhunderte der Christenheit ins menschliche Denken hineingearbeitet: »stereo« in den christlichen Mystikern, »mono« in den Atheisten der Neuzeit: Feuerbach, Nietzsche, Sartre ... Diese haben recht, insofern sie Jesu religionskritischen Impetus gegen jede Mißgestalt des Gottesglaubens fortführen; sie haben unrecht, insofern sie vor die erste Revolution in jene Gottlosigkeit zurücksinken, in welcher die Heiden bis heute leben. Wo ein Bischof nicht als Hoherpriester des Neuen Israel auftritt sondern (wie ein Jacques Gaillot) als Jünger des Religionskritikers Jesus, da wird er vom Kirchenapparat in die Wüste geschickt, wirkt aber dort erst recht im Sinn seines Meisters. Ob ein Joseph Ratzinger, zu Besuch in Partenia, sich dort am Ende ebenso wohl fühlt wie Gaillot und Romero bei ihren Abstechern nach Rom? Unterschätzen wir nicht die Spannkraft erwachsener Herzen!

Unfehlbar wahr ist keine der mächtigen Ideologien, sondern allein der vernünftige Glaube, der beider Wahrheitspole auseinander- und zusammenhält. Mächtig (und angefochten) sind beide Ideologien. Schleichende Gottlosigkeit hier, tyrannische Theokratie dort halten Millionen von Gemütern im Griff - wie lange? Manches Herz, das sein Tagewerk ehedem mit einem Abendgebet beschloß, taumelt inzwischen, von blöden Fernsehsketchen erschöpft, in ein ungesegnetes Bett - war die Komplet damals in der Klosterkirche nicht reicher? Gewiß - erinnerst du dich aber des seelenlosen Geleiers von Mönchslippen, denen die gottgeweihte Seele längst abhanden gekommen war? Die heuchlerische Frömmigkeit, die Jesus so geißelt, sie grassiert im Neuen Israel nicht minder als im Alten.

[Zusatz im Januar 2006: Inzwischen scheint mir, statt der Rede von zwei Revolutionen, die joachimitische von drei geistlichen Revolutionen christlich passender, weil drei-einig. Das Konzil eine Revolution nannte bereits Bischof Wojtyla bei der Heimkehr nach Krakau. Eine solche im Vollsinn kann sich für Christen tatsächlich nur als Neu-Offenbarung einer göttlichen Person ereignen!]

Nein, im Buchstaben ist kein Heil. Vom Verstand läßt die Vernunft sich nicht organisieren, vom linken so wenig wie vom rechten. Doch ist sie gerufen, sich je neu eine aktuelle Lebensgestalt zu schaffen. »Das Überpolitische, das das Politische ordnen muß, ist nicht eine Instanz, die objektiv errichtet werden könnte ... Die Glaubwürdigkeit der Menschen beginnt im kleinsten Kreis intimer Gemeinschaft der Vernünftigen. Sie breitet sich aus in der Öffentlichkeit, im bewußten Widerstand gegen das Vernunftwidrige ... Aber eine organisatorische Förderung moralischer Erneuerung ist nicht möglich. Ihre Organisation wäre schon ihre Selbstaufhebung.« (Karl Jaspers, Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, München 1958,310)

Auch mitten im Pro und Contra zur Religion gibt es so etwas wie eine inoffizielle Gemeinschaft der Vernünftigen. In einem Nürnberger Vortrag während des Prager Frühlings meinte der tschechische Atheist Gardavsky, die 5% gläubigen Christen und 5% überzeugten Marxisten stünden gemeinsam vor der Aufgabe, für ein sinnvolleres Leben der 90% anderen zu arbeiten. Wenn wir die x % vernünftigen Agnostiker und die a - z % vernünftigen Anhänger anderer Ideologien einbeziehen, ist die Aufgabe nicht gar so aussichtslos.

Gelegentlich bringt die Gemeinschaft der Vernünftigen Sätze hervor, in denen die widersprüchlichen Wahrheitspole auf paradoxe Weise zusammengespannt sind. Was den Verstandfixierten als dummer Witz vorkommt (so wie ein rot-grüner Kreisel, flott gedreht, dem langsamen Blick in stumpfem Grau erscheint), darin ahnt wache Vernunft zunächst und erkennt dann klarer und klarer den sonnenhellen Stereo-Glanz der nie ganz begreifbaren Wahrheit.

»Das negative Sprechen über Gott ist das eigentlichste« (Thomas von Aquin). »Wir wissen nichts über Gott, aber das ist ein Nichtwissen von Gott« (Franz Rosenzweig). »Ich bin völlig gewiß, daß es einen Gott gibt, in dem Sinn, daß ich völlig gewiß bin, daß meine Liebe nicht illusorisch ist. Ich bin völlig gewiß, daß es keinen Gott gibt, in dem Sinn, daß ich völlig gewiß bin, daß nichts Wirkliches dem gleicht, was ich begreifen kann, wenn ich diesen Namen ausspreche. Aber das, was ich nicht begreifen kann, ist keine Illusion« (Simone Weil). »Ich bin Atheist um Gottes willen« (Ernst Bloch). »Gott sei Dank bin ich Atheist« (Buñuel).

Samt seinem kirchlichen Kontext darf auch jenes Glaubensbekenntnis »Ob es Gott gibt, weiß ich nicht« als ein paradox wahrer Satz gelten. Indem die falsche Frage ausgesprochen wird, teilt sie sich dem gläubigen Hörer in zwei echte Fragen auf:
a) Bist DU, unser ICH die personhafte Einheit des Ganzen, für uns da?
b) Enthält das Universum, neben und in Rivalität zu anderen Faktoren, auch einen übermächtigen Faktor namens Gott?
Weil der Glaube a) bejaht, darf er b) verneinen. Und weil mündiges Denken b) verneint, braucht es DEINER Offenbarung, wenn sie sich eines Tages ihm schenkt, nicht zu widerstreben. Diese Stereo-Wahrheit fand ich in dem Zweifelsatz, deshalb ließ ich ihn mir gern in der Predigt als DEIN Wort verkünden. Jener Student übrigens vernahm nach ihr von einem Zuhörer diesen Spruch des Herrn: An mir zweifeln kannst du nur, weil ICH an dich glaube.

August 1998


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Volle Internet-Adresse dieser Seite: http://www.stereo-denken.de/aida.htm

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