Jürgen Kuhlmann

Löscht den Geist nicht aus!

Wird Papst Benedikt der Jugend erklären,
was »New Age« christlich bedeutet?

Wenn der Papst im August zum Weltjugendtag nach Köln kommt, sind Tausende junger Menschen dort und Millionen in aller Welt auf das neugierig, was er ihnen sagen wird. Werden wieder die altbekannten Inhalte päpstlicher Verlautbarungen auf wohlwollendes Verständnis oder enttäuschten Spott stoßen? Wird der Papst an die Botschaft anknüpfen, die vor vierzig Jahren die Studenten des jungen Professors Ratzinger begeistert hat? Oder wird er jetzt gar vor aller Welt deutlich mitteilen, was er damals nicht sagen konnte, weil der geschichtliche Augenblick dafür noch nicht da war? Ich bin überzeugt: Jetzt ist er da. Während die Welt unvorstellbaren Katastrophen entgegenzutaumeln droht, ist die Kirche endlich erwachsen geworden, versteht nach bald zweitausend Jahren ihre eigene Botschaft radikal neu. Ein solcher Satz klingt verrückt. Urteilen Sie aber bitte erst, wenn Sie die folgende Begründung kritisch geprüft haben.

Der Sinn überragt das Zeichen

Fangen wir mit einem Gleichnis an. »ALLE BUCHSTABEN« schreibt die Lehrerin an die Tafel. »Stimmt das?« fragt sie die Kinder. Die meisten meinen: Ja. Es ist richtig geschrieben. Nur Simone meldet Zweifel an: »Eigentlich stimmt es nicht. Es sind ja nicht alle Buchstaben. Die meisten fehlen.« »Du hast recht. Trotzdem stimmt, was an der Tafel steht. Damit ALLE BUCHSTABEN alle Buchstaben bedeutet, dürfen es nicht alle Buchstaben sein. Wenn ich die anderen dazuschreibe, so: ACLFLJEKQBMURCXHYSWTZADBGEONP - heißt es nichts mehr. Das Zeichen ist kaputt. Aber deine Wahrheit ist auch wichtig. Nur darfst du sie nicht ins Zeichen hineinschreiben, sondern daneben, vielleicht so: Zu allen Buchstaben gehört auch X.« - »Auf englisch gehört auch das R zum Zeichen«, meldet sich John: »ALL LETTERS«. »Und auf spanisch sind U und B draußen, O und D drin«, ergänzt Manuel: »TODAS LAS LETRAS«. »Richtig«, faßt die Lehrerin zusammen. »In den verschiedenen Sprachen sind andere Buchstaben ein- und andere ausgeschlossen. Aber in jeder Sprache müssen viele Buchstaben ausgeschlossen sein, damit das Zeichen seinen Sinn bedeuten kann.«

Christentum heißt: HEIL FÜR ALLE. Damit es das bedeuten kann, sind in christlicher Sprache bestimmte Lebensformen ohne offizielle Gültigkeit. Weil in einer heilen Welt Liebe nicht um Geld verkauft würde, deshalb baut man nicht einen Puff neben die Mädchenschule. Prostitution ist kein kirchlich anerkannter Beruf, obwohl man weiß, wie Jesus die anständigen Damen provoziert hat: »Die Huren kommen vor euch ins Himmelreich« (Mt 21,31). Wir müssen bei jeder Lebensform zwischen Was und Wer unterscheiden. Was die Hure darstellt, würde die Botschaft fälschen, bleibt aus dem Heils-Zeichen ausgeschlossen. X gehört nicht in ALLE BUCHSTABEN. Aber zu allen Buchstaben: Wer diese Hure zuinnerst ist, wird von der christlichen Heilsbotschaft in vollem Ernst mitgemeint, um kein Haar weniger als die frömmste Ehe- oder Ordensfrau. Das hat die Kirche bisher nicht hinreichend deutlich gemacht.

Schwieriger ist die Frage nach Ehe und Scheidung. Klaus Berger macht es sich (FAZ v. 13. Juli, S. 31) m.E. zu einfach, wenn er auch die Frage der Scheidung zu denen rechnet, bei denen »eine geeinte Christenheit unter allen Umständen mit einer Zunge sprechen muß«. Im Gegenteil, meine ich, kann hier nur eine Sprachenvielfalt die gegensätzlichen Heilspole einigermaßen ausdrücken. Denn einerseits ist ihre und seine Treue zueinander ein wichtiges Heilszeichen für die allein uns rettende Treue Gottes zu seiner Schöpfung. So gesehen, gibt es in der Kirche mit Recht keine Scheidung. Mein Vater hat mir einmal bezeugt: Hätten wir nicht beide klar gewußt, daß es für uns keine andere Lösung gibt, dann wären wir manches Mal nicht beisammen geblieben! Und anfangs der Sechziger Jahre durfte ich in Rom noch mit P. Hürth SJ sprechen, wenige Monate vor seinem Tod. Er galt als einer der großen alten Männer der päpstlichen Universität Gregoriana, hatte, so hieß es, maßgeblichen Anteil an der Ehe-Enzyklika Casti Connubii des Papstes Pius XI. Damals sagte er mir ungefähr folgendes: »Wer leugnet, daß es Ehen gibt, die eigentlich gar keine Ehen mehr sind, der leugnet Tatsachen. Versuchen wir aber einmal, uns auf Gottes Standpunkt zu stellen. Was geschähe, wenn er eine Scheidung dieser mißlungenen Ehe zuließe? Dann würden so und so viele junge Ehepaare bei der ersten schweren Krise, statt sie zu bestehen, gleich an Scheidung denken. Und aus der Möglichkeit der Scheidung würde ihre häufige Tatsächlichkeit entspringen. Wo kämen wir da hin! Deshalb hat Gott es in seiner Weisheit anders geregelt.«

Der ebenso wichtige Gegenpol zum katholischen TREU ist aber das evangelische NEU. Morden darf man ein Ehe-Wir nicht; ein totes im Wohnzimmer verfaulen zu lassen widerspricht freilich gleichfalls dem Sinn des Schöpfers. Er schenkt Verlorenem einen neuen Anfang. Auch das hat die Kirche zu verkünden. Könnte, was in einer Inschrift nicht zusammenpaßt, vielleicht in gegensätzlichen Lebens-Sprachen doch friedlich nebeneinander stehen, so daß deren Sprecher sich des gemeinsamen Sinnes ihrer unvereinbaren Zeichen bewußt sind (»Gottes Liebe ist treu und neu zugleich«) und deshalb miteinander das irdisch-himmlische Versöhnungsmahl feiern? Das ist mein Traum von der künftigen Kircheneinheit.

Fast zerrissen werden die Kirchen derzeit vom Problem Homosexualität, am schlimmsten die anglikanische. Weil ein US-amerikanisches Bistum einen geschiedenen und offen praktizierenden Schwulen zum Bischof einsetzte, drohen afrikanische Erzbischöfe, die Gemeinschaft mit dieser unbiblisch lasterhaften Schwesterkirche abzubrechen. Warum kann ich auch hier Klaus Bergers wenig pfingstlicher Forderung nach einheitlicher Zunge nicht zustimmen? Einerseits ist es ein Kennzeichen des Heils, daß sexuelle Liebe fruchtbar ist, neues personhaftes Leben hervorbringt. Weil sie das bei Lesben und Schwulen nicht tut, gehört deren Was insofern nicht in die christliche Heilsbotschaft. Wohl ihr innerstes Wer; von ihm aus kann dann bestenfalls auch ihr konkretes Was erlöst sein. Eine treue Verbindung gleichfühlender Erwachsener, die nur miteinander so leben wollen, wie sie nun einmal geschaffen sind, ist ebenfalls ein gültiges Heilszeichen: die drei-einige Polarität DU - ICH - WIR bedeutet das göttliche Leben auch dann, wenn das Wir nicht (wie bei der Familie) ein neues selbständiges Ich hervorbringt. Verschiedene Zeichen schließen einander nur in einer Inschrift aus, nebeneinander bedeuten ALLE BUCHSTABEN und TODAS LAS LETRAS noch umfassender als je einzeln ihren gemeinsamen Sinn. In diesem Punkt stehen die anglikanischen Christen vor einer gigantischen Aufgabe im Dienst der Christenheit: versöhnte Verschiedenheit lebbar zu machen, zum Zeugnis für die Welt.

Viele andere »unkirchliche Buchstaben« wären zu besprechen, ich kann sie nur andeuten. Weil für den Verstand der Vielen (der auf der öffentlichen Zeichen-Ebene maßgebend ist) Mohammeds, Buddhas oder Feuerbachs Botschaft der christlichen widerspricht, deshalb muß diese vor jeder Vermischung mit jenen freigehalten werden. Solche Abgrenzung ist das Prinzip des Buchstabens aber nur, um den wahren geistlichen Sinn des Zeichens allen Menschen ins Herz zu leuchten: Jeder, ob Christ, Moslem, Buddhist oder Atheist, ist samt seiner persönlichen Wahrheit von Gott geliebt und von den Christen hochzuachten, auch wenn sie die überlogische Vereinbarkeit der fremden Wahrheiten mit der eigenen christlichen auf Erden nicht begreifen. Mystiker und Brückenmenschen, die solche Vereinbarkeit wenigstens ahnen, vermitteln Normalchristen hilfreiche Impulse; wichtig ist aber, daß auch die offizielle Kirche deutlicher als bisher den Sinn ihrer Botschaft erklärt.

Das Zeitalter des Heiligen Geistes

Papst Benedikt bringt dafür eine Voraussetzung mit, von der m.W. noch nirgends die Rede war. 1960, als Joseph Ratzinger 33 war, verfaßte er im »Lexikon für Theologie und Kirche« (LThK) den Artikel »Joachim von Fiore«. In einer kurzen Spalte fand er doch Platz für den Hinweis, daß nach Ansicht des kalabrischen Abtes (+ 1202) mit dem heiligen Benedikt (+ 547) das Dritte Zeitalter des Heiligen Geistes seinen Anfang nehme. Joachims berühmte Prophetie, die in den folgenden Jahrhunderten immer wieder die Geister ergriff, war die Erwartung des vollen Durchbruchs der innergeschichtlichen Geist-Epoche nach dem Ersten Zeitalter des Vaters (der Offenbarung an die Juden) und dem Zweiten Zeitalter des Sohnes: der organisierten christlichen Kirche.

Lassen diese Formeln sich so zum Leben erwecken, daß sie Zeitgenossen zu besserem Selbstverständnis helfen? Davon sind glaubende Juden und Christen überzeugt. Jeder Mensch ist immer schon vor das Unendliche gestellt. Das Rätsel des Ganzen bleibt unbegreiflich. Mal beglückt, mal entsetzt es ihn, nie läßt es sich fassen. Wohl kann er es mit symbolischen Projektionen überziehen und wird vielleicht, wie er sich auf Erden vor Höheren neigt, einen himmlischen Hofstaat von Göttern und Göttinnen verehren. Echtes Wissen waren diese Versuche aber nie; spätestens seit Immanuel Kant weiß die Menschheit, daß sie von sich aus die Wahrheit des Ganzen nicht wissen kann.

Einmal jedoch - so glauben Juden und Christen - ist das Unendliche aus seinem Schweigen herausgetreten und hat sich bestimmten Menschen als Person offenbart, als der/die Unendliche: ICH BIN WER ICH BIN. Seither beziehen Menschen sich nicht nur auf selbstgemachte Gottesbilder (»Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde«, steht auf dem Feuerbach-Denkmal in Nürnberg), sondern wahrhaft auf Gott selbst. Nicht weil wir so klug wären, sondern weil DU, Gott, dich uns zeigen willst. Das glaubt der eine, bezweifelt die andere, leugnet ein dritter. Für das Wissen entscheidbar ist die Frage nicht. Doch sollte klar geworden sein, was der Glaube mit dem Ersten Zeitalter des Vaters meint: Das Unendliche tritt von sich aus bestimmten Menschen als ihr DU gegenüber, das sie zugleich fordert und bejaht.

An das Zweite Zeitalter des Sohnes glauben die Christen. Eines Tages offenbarst DU dich uns als ein bestimmtes menschliches Ich: Jesus, Gott und Mensch zugleich. Wer sein Jünger sein will, gehört zum Reich des Sohnes, zur Kirche. - Was ist dann aber mit dem Dritten Zeitalter des Heiligen Geistes gemeint? Ist ein dritter, ähnlich tief eingreifender Fortschritt wie der vom rätselhaften WAS zum offenbarten WER und dann vom himmlischen Gott zum irdisch-himmlischen Gott-Menschen überhaupt denkbar?

Tatsächlich hat Joachim als erster die Idee eines solchen grundstürzenden Fortschritts ins Denken Europas eingeführt. Zwei Generationen nach ihm hat der Franziskaner-Obere Bonaventura (+ 1274) diesen Ansatz übernommen. 1959 stellte Prof. Ratzinger in seiner Habilitationsschrift fest (S. 15 der Ausgabe von 1992): »Hier wird eine neue innerweltliche, innergeschichtliche messianische Hoffnung erhoben, hier wird bestritten, daß mit Christus das Höchstmaß innergeschichtlicher Erfüllung schon gegeben sei und nur noch die eschatologische Hoffnung auf das bleibe, was nach aller Geschichte liegt. Bonaventura glaubt an ein neues Heil in der Geschichte, innerhalb der Grenzen dieser Weltzeit.«

Das klingt nicht nach Distanzierung des Autors vom Mitgeteilten. Kurz danach begann das Konzil, von Papst Johannes XXIII. unter das Hoffnungswort »Neues Pfingsten« gestellt. Auch Joseph Ratzinger tat das Seine, dem Heiligen Geist neuen Raum zu schaffen. Nicht nur unrecht hatten jene »Konservativen«, die sich schon während des Konzils beklagten, die Kirche sei nicht mehr die gleiche wie zuvor. Bisher hatte sie sich als Neues Gottesvolk verstanden, das nach der Kündigung des Alten Bundes die verworfenen Juden beerbt habe - jetzt, bald nach der Hölle von Auschwitz (die es ohne kirchliche Judenfeindschaft nicht gegeben hätte!), lehrt die Kirche, daß Gottes Bund mit Israel nicht gekündigt wurde, sondern für die glaubenden Juden weiterhin gilt. Noch 1832 nannte Papst Gregor XVI. die Idee einer Gewissensfreiheit einen Wahnsinn (»deliramentum«) - seit dem Konzil ist das Recht auf Gewissensfreiheit klare katholische Lehre.

Joachims Einsicht in einen gewaltigen drei-einigen Geschichts-Rhythmus macht diese ungeheure Wandlung für Christen verstehbar. Er unterscheidet zwischen der Kirche des Buchstabens im Zweiten Zeitalter und der Kirche des Geistes im Dritten. Heute weitergedacht, könnte das heißen: Die Buchstabenkirche glaubt an Gottes Heil für alle, die seine Offenbarung in Jesus Christus annehmen. Er ist, samt seinen Jüngern durch die Zeiten hin, das deutliche Zeichen des umfassenden Heils. Die Geist-Kirche glaubt dasselbe, erfaßt und verkündet darüber hinaus aber auch noch den wahren Sinn des Zeichens, eben Gottes Heil für alle überhaupt, die es im Herzen annehmen - unabhängig davon, wie sie ihren Glauben, ihre Hoffnung ausdrücken.

Im Detail hat Joachim sich geirrt. Weder brach, wie er meinte, das Zeitalter des Geistes schon 1260 herein noch besteht es in der Herrschaft eines radikalen Ordens. Doch sprechen die revolutionären Umkehrungen des kirchlichen Selbstverständnisses seit dem zweiten Vatikanischen Konzil eine deutliche Sprache. Das Zeitalter des bloßen Buchstabens ist für pfingstliche Christen vorbei. Was früher nur einzelne Mystiker und Heilige hofften, ist jetzt öffentliche Lehre: Allen Menschen gilt Gottes Heil. Deshalb sollte unsere gemeinsame Hoffnung alle Verantwortlichen der Buchstabenkirche - friedlich aber machtvoll - dazu drängen, daß sie neben der sorgsam gehüteten eigenen Botschaft auch die grundsätzliche Zugehörigkeit der vom Zeichen ausgeschlossenen fremden Lebenswirklichkeiten zu dessen Sinn öffentlich anerkennen. Auch X und Y gehören zu allen Buchstaben. Auch Religionskritik, Einheitsmystik und die Menschenwürde Homosexueller werden, obwohl sie das christliche Zeichen nicht mit bilden, von ihm doch in aller Wahrheit mitgemeint.

Wer dieses - in Joachims Worten - »geistliche Verständnis« aus taktischen Erwägungen verschweigt und bei den ihm Anvertrauten hindern will, indem er zum Beispiel einem Bischof Gaillot verbietet, den Sinn von »Heil für alle« den Menschen klar zu machen, ein solcher hat im Hinblick auf das Dritte Zeitalter für sich eine ähnliche Entscheidung getroffen, wie vor zweitausend Jahren im Hinblick auf das Zweite jene jüdischen Hohenpriester und Schriftgelehrten, die Jesu Botschaft nicht annahmen, sondern ihn um ihres Buchstabens willen aus dem Wege räumten. »Wir haben ein Gesetz ...« Sie zu verurteilen, als von Gott verworfen abzutun, war ein schlimmer Fehlgriff der Christenheit, ihn dürfen die Gläubigen des Dritten Zeitalters heute keinesfalls kopieren. Verdammen wir deshalb nicht solche Hierarchen und Laien, die subjektiv gutgläubig im Zweiten Zeitalter verbleiben. Auch sie werden gebraucht. Um der Lesbarkeit der buchstäblichen Botschaft willen sollen X und Y sich nicht in die Inschrift ALLE BUCHSTABEN drängen. Kämpfen wir jedoch für unser Recht, daneben ebenso öffentlich auch die geistliche Wahrheit unseres Glaubens auszudrücken: X und Y sind gültige Buchstaben. Auch AXT ist ein wichtiges Wort, ohne Axt wird man mit manchem Gestrüpp nicht fertig. Ähnlich ist die Kirche auf tüchtige Religionskritiker angewiesen, obwohl deren Wahrheit sich von einer Kanzel aus nur abgeschwächt sagen läßt.

So wird im Zeitalter des Heiligen Geistes, von Joachim angekündigt und inzwischen hereingebrochen, die voraufgehende Wahrheit des Wortes nicht falsch, aber durch geistliches Verständnis ergänzt. ALLE BUCHSTABEN muß, soll das Zeichen sinnvoll sein, die anderen Lettern auf der Zeichen-Ebene immer ausschließen, insofern betont Ratzinger (S. 120 der Habilschrift) mit Recht: »Der Gedanke eines Zeitalters des Heiligen Geistes, der in der joachimschen Fassung die Mittelstellung Christi aufhebt, wird bei Bonaventura als solcher nicht übernommen.« Allzu begeisterte Franziskaner hatten Joachims Prophezeiung in antikirchlichem Sinn weitergedacht, dagegen schritt eine Kommission von Kardinälen im Juli 1255 vor jetzt exakt einem Dreivierteljahrtausend ein, warf ein ketzerisches Buch ins Feuer und verbannte seinen Autor zu lebenslänglicher Klosterhaft. Auch dieser Artikel im LThK (Gerhard v. Borgo San Donnino) stammt von Ratzinger.

Dürfen wir jenen so traurig gescheiterten Franziskaner nachträglich als kirchlichen Denker anerkennen, gemäß Ratzingers Prinzip [Einführung ins Christentum (1968), 134], Häresien seien »weniger Grabmonumente als Bausteine einer Kathedrale«? Mir scheint, ja. Gerhard hatte einige von Joachims Schriften als »Ewiges Evangelium« neu veröffentlicht und kommentiert; so erweckte er den Eindruck, das Evangelium des Dritten Zeitalters sei etwas neu Geschriebenes, ähnlich den vier Evangelien der Kirche. So habe Joachim selbst es nicht gemeint, verteidigen ihn die meisten Fachleute; er verstehe unter dem Ewigen Evangelium keinen neuen Text, vielmehr das geistliche Verständnis des wahren Sinnes, den der alte Text im Grunde immer schon hatte.

Das trifft einerseits zu. Es geht darum, den wahren Sinn der Evangelien zu erfassen. Weil der jetzt neu erfaßte Sinn aber auch, als solcher, gelehrt und verkündet werden muß, deshalb hatten Gerhard und die Seinen nicht unrecht, wenn sie das Ewige Evangelium auch als neuen Buchstaben deuteten und verbreiten wollten. In überlieferter katholischer Glaubenssprache gesagt: Es gilt einzusehen, daß die Abfolge der drei trinitarischen Zeitalter sich als ganze innerhalb der WORT-Dimension ereignet. Nur ES hat sich in die Zeit eingesenkt, nur sofern Vater und Heiliger Geist auch im WORT sind und sich deshalb in Worten und Buchstaben ausdrücken können, fügen ihre Offenbarungen sich zum dreieinigen Rhythmus der Heilsgeschichte. Gott Vater sprach zu Abraham und Mose; auch was der Heilige Geist der Kirche heute sagt, muß sie verständlich weitersagen. Nicht nur der Schriftzug ALLE BUCHSTABEN gehört an die Tafel, auch der ihn gegen monopolisierendes Mißverständnis schützende Satz »X, Y und Z sind echte Buchstaben.«

Vom Grenzwächter zum Brückenbauer

Allerdings würde die Lehrerin Simone schimpfen, wollte die das Heilssignal ALLE BUCHSTABEN durch Einfügen von X, Y usw. zerstören. Dieselbe Strenge war die Aufgabe von Kardinal Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation. Wen hat er da nicht alles von der Tafel verscheucht! Wird er jetzt, als Papst, sich mehr auf die andere Pflicht konzentrieren, die ebenso unendlich wichtig ist (gleichrangig sind, wie in GOTT selbst, so in der WORThaften Geschichte das WORT und der GEIST): Simones geistliche Wahrheit zu lehren, daß ALLE BUCHSTABEN nicht nur diese wenigen bedeutet, sondern wirklich alle? Das Kirchenvolk ist vom Sturm des Heiligen Geistes längst gepackt, hat tief begriffen, daß der Sinn des Zeichens »Heil für alle in Christus« gerade nicht ist: Heil nur für alle, die dies glauben, sondern: für alle überhaupt.

Letztlich sogar für solche, die sich durch Bosheit gegen ihr Heil wehren. Das kann freilich nicht mehr der christliche Glaube behaupten, er bezieht sich auf Gott, nicht auf die Abgründe menschlicher Freiheit. Hoffen aber dürfen wir, daß selbst der Böseste vom Strahl der Liebe erreicht wird. Irgendwann war sein Herz offen, ohne Bosheit - von diesem Augenblick her, auch wenn er im schlimmsten Falle nur einen Moment dauerte, möge sich das Tor für ihn öffnen. Rousseau erzählt im 6. Bekenntnisbuch von seiner mütterlichen Geliebten: »Diese Seele ohne Haß, die sich keinen rächenden und stets ergrimmten Gott vorstellen konnte, sah nur Milde und Erbarmen, wo die Frommen nur Gerechtigkeit und Strafe sehen. Sie sagte oft, daß keine Gerechtigkeit in Gott wäre, wenn er gegen uns gerecht wäre, weil er, da er uns nicht das gab, was dazu gehört, mehr fordern würde, als er uns gab. Sonderbar war, daß sie, ohne an die Hölle zu glauben, sich nicht den Glauben an das Fegfeuer rauben ließ. Das kam daher, daß sie mit den Seelen der Bösen nichts anzufangen wußte, da sie sie nicht verdammen konnte noch auch mit den Guten zusammenbringen, bis sie selbst gut geworden waren.«

Heinrich Heine, der sich selbst (in der Bergidylle) als Ritter des Heiligen Geistes bezeichnet, schrieb im zweiten Börne-Buch: »Die merkwürdigsten Worte des neuen Testamentes sind für mich die Stelle im Evangelium Johannis, Kap. 16, v. 12-13: ‚Ich habe Euch noch viel zu sagen, aber Ihr könnet es jetzt nicht tragen. Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, der wird Euch in alle Wahrheit leiten. Denn er wird nicht von sich selbst reden, sondern was er hören wird, das wird er reden, und was zukünftig ist, wird er Euch verkündigen.’ Das letzte Wort ist also nicht gesagt worden, und hier ist vielleicht der Ring, woran sich eine neue Offenbarung knüpfen läßt. Sie beginnt mit der Erlösung vom Worte, macht dem Märtyrtum ein Ende und stiftet das Reich der ewigen Freude - das Millennium. Alle Verheißungen finden zuletzt die reichste Erfüllung.«

Wie die Kirche des Sohnes das Bundesvolk Israel nicht abgelöst sondern ergänzt hat, so wird auch die Geist-Kirche des Dritten Zeitalters die Buchstabenkirche des Zweiten nicht ablösen. Wohl aber muß sie dieser endlich das wahre Verständnis und die offene Verkündigung ihrer eigenen Botschaft nahebringen. »Denn der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig« (2 Kor 3,6). Nicht solche tötet der Buchstabe, die nach Gottes Willen innerlich noch zum vorigen Zeitalter gehören sollen. Ihnen bleibt dessen Buchstabe die maßgebliche Offenbarung. Wen die allbelebende Heilige Gischt aber zu IHRem Künder beruft, der verfiele allerdings, wollte er sich gegen solchen Auftrag wehren, dem geistlichen Tod.

»Daß mit Christus das Höchstmaß innergeschichtlicher Erfüllung schon gegeben sei«, hat Professor Ratzinger 1959 ebenso bezweifelt wie Joachim und Bonaventura im Mittelalter. Wird der Papst jetzt die Kraft finden, sich nach langer Übung im auferlegten Dienst am Buchstaben auf die nicht nur neue sondern wahrhaft Neue Aufgabe umzuschalten, prophetisch dessen allumfassenden Sinn zu verkünden und die vielen, die er aus dem kirchlichen Schriftzug ausgrenzen zu müssen überzeugt war, jetzt - öffentlich sichtbar - zu ihrem anderen Dienst am gemeinsamen Geist zu stärken? Werden wir freundliche Papstgespräche mit Hans Küng, Leonardo Boff, Eugen Drewermann, Jacques Gaillot, Schwester Jeannine Grammick und manchen anderen erleben? Die Kommunionspendung an den evangelischen Christen Roger Schütz beim Requiem für Johannes Paul war eine erfrischende Geste. Welche werden folgen? Hoffen wir, der Papst habe sich auch deshalb Benedikt genannt, weil für ein Herz, das die Zeichen der Zeit zu lesen versteht, jetzt ernsthaft die Epoche des Heiligen Geistes »dran« ist.

Juli 2005

Eine ausführliche Fassung dieser Gedanken


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