Jürgen Kuhlmann

Kommt etwas nachher ?

Erläuterungen zu einem packenden Anti-Jenseits-Gedicht von Bert Brecht

Gegen Verführung

Laßt euch nicht verführen!
Es gibt keine Wiederkehr.
Der Tag steht in den Türen;
Ihr könnt schon Nachtwind spüren:
Es kommt kein Morgen mehr.

Laßt euch nicht betrügen!
Das Leben wenig ist.
Schlürft es in vollen Zügen!
Es wird euch nicht genügen
Wenn ihr es lassen müßt!

Laßt euch nicht vertrösten!
Ihr habt nicht zuviel Zeit!
Laßt Moder den Erlösten!
Das Leben ist am größten:
Es steht nicht mehr bereit.

Laßt euch nicht verführen!
Zu Fron und Ausgezehr!
Was kann euch Angst noch rühren?
Ihr sterbt mit allen Tieren
Und es kommt nichts nachher.
(Bert Brecht)

Ein aufregend schönes Gedicht. Vor Jahren hat es mich gepackt und seither nicht mehr losgelassen. Wie eine unknackbare Nuß ließ es mir keine Ruhe: kann etwas so Schönes falsch sein? Wie stimmt aber diese Botschaft zur christlichen? Auf einmal, so scheint es, ist die Nuß aufgegangen. Schmeckt ihr Kern auch anderen?

"... und es kommt nichts nachher." Natürlich! Wie soll denn etwas nachher kommen, wenn es gar kein Nachher gibt? Wir wissen: die Zeit, mit ihrem Vor und Nach, gehört zu dieser Welt. Bei deinem Tod stirbt für dich die Zeit. Also gibt es kein Nachher; die Ewigkeit kommt nicht nach der Zeit.

Der christliche Normalverbraucher denkt etwa so: ich lebe meine paar Jahrzehnte hier auf Erden ab und komme dann, wenn alles gut geht, in den Himmel. Dort geht das Leben weiter , nur viel schöner. Es gibt dann keine Kreuzschmerzen mehr, keine Müdigkeit und kein Mißverständnis. Kurz: im Grunde läuft die Zeit nach dem Tode ähnlich weiter wie jetzt, aber mit verändertem , nämlich viel erfüllterem Inhalt.

Der ungläubige Normalverbraucher stellt es sich so vor: ich lebe meine paar Jahrzehnte ab und dann ist es mit mir vorbei. In hundert Jahren gibt es mich nicht mehr. Vor hundert Jahren hat es mich ja auch nicht gegeben: beides kümmert mich nicht. Kurz: im Grunde läuft die Zeit nach dem Tode ähnlich weiter wie jetzt, aber mit verändertem , nämlich für mich ganz leerem Inhalt. Der eine denkt: nachher kommt es schöner; der andere: nachher kommt nichts. Beide wollen nicht begreifen, daß sie sich in einem fundamentalen Irrtum einig sind. Beide meinen, daß überhaupt ein Nachher kommt. Und das ist falsch. Es gibt kein Nachher; beim Tode hört für dich die Zeit auf. Was bedeutet das aber? Ohne ein Minimum an Vorstellbarkeit bleibt die reichste Wahrheit leblos und steril.

Helfen wir uns deshalb mit einem Gleichnis.

Vielleicht erinnert sich mancher an das unvergeßliche Fernsehspiel "Endspurt": Ein und derselbe Mann tritt vierfach auf: mit zwanzig, vierzig, sechzig und achtzig Jahren. Vier ganz verschiedene Menschen streiten sich miteinander, verachten und mißverstehen sich gegenseitig - und sind doch alle einer. Leicht umgestaltet bietet diese Idee uns die gesuchte Anschaulichkeit. Stell dir eine lange Reihe von Menschen vor, einen hinter dem andern. Den Anfang macht ein neugeborener Säugling, dann kommen immer größere Kinder , später lauter Jugendliche, dann Erwachsene bis hin zum Letzten in der Reihe, einem zittrigen Greis. Diese ganze Reihe, einer hinter dem andern: das bist du, Stunde für Stunde, Tag um Tag. All diese Menschen gehen stetig durch ein großes Tor. Vor ihm sind sie noch verschwommen, gleichsam unscharf eingestellt, ohne klare Kontur. Die erhalten sie erst im Augenblick des Durchgangs. Was auf der anderen Seite auf sie wartet, läßt sich im Tor noch nicht sehen. Das Tor selber heißt: Jetzt. Andere nennen es: Tod. Das ist kein Unterschied; denn viele Menschen, die wir waren, sind schon gestorben. Jenes süße kleine Mädchen, jener freche Lausbub, die doch einmal wirklich waren , was sind sie jetzt? Gewesen, tot. Jetzt und Tod sind dasselbe. Blick nun wieder die Reihe der Gestalten an , die alle du sind. Was geschieht, sobald der letzte das Tor durchschritten hat? Ist es dann mit dir vorbei? Einerseits ja: "Es kommt nichts nachher." Das ist die tiefe Wahrheit unseres Gedichtes. Mit dem Tod ist Schluß. Was kommt nach dem Tod? Was war vor der Zeugung? Beide Fragen sind gleich unsinnig, betreffen nicht dich: denn du bist eben der Mensch von der Zeugung bis zum Tod, nichts anderes und nichts weiter. Für versäumtes, vertanes , verschludertes Leben gibt es keinen Trost im Jenseits. Was du nicht - in dir selbst oder dank der Verbundenheit mit anderen - hier gewesen bist, das bleibt ungelebt.

Haben wir und unsere Väter denn aber nur Unsinn gemeint, wenn wir unsere Hoffnung auf ein Leben nach dem Tode bezeugten? Natürlich nicht. Nur scheint jetzt die Zeit gekommen, diesen ungenauen Begriff durch einen treffenderen, minder mißverständlichen zu ersetzen. Gesagt hat man: "Lebe ich nach dem Tode weiter?" Gemeint hat man: "Ist mein Leben nichtig oder ewig?" Die christliche Antwort auf diese Frage ist klar: Ich freue mich auf ein Leben "nach dem Jetzt". Statt zeitlich läßt das Gemeinte sich auch räumlich ausdrücken: Ich bin gewiß eines Lebens "über das Hier hinaus". Auf das unsagbare Verhältnis der Schöpfung zu Gott angewandt, verlieren die Grundkategorien Raum und Zeit ihre Exaktheit: alle Milliarden Jahre führen nicht zur Ewigkeit, alle Milliarden Meilen nicht in den Himmel. Nach dem Jetzt und über das Hier hinaus wirklich ist das Eigentliche, doch ist es weder irgendwann noch irgendwo.

Wie es jenseits des Tores zugeht, das können wir, die ja stets gerade in ihm sind, natürlich nicht wissen. Diese Überraschung hat Gott sich vorbehalten. Doch besteht kein Grund , ihr Eintreten gerade auf den Endpunkt des irdischen Lebens zu fixieren. Bin vielleicht ich, der damals mit Freunden so göttlich gefeiert hat, jetzt schon mit ihnen (den "Lebenden und Verstorbenen") zusammen im Himmel, ist deshalb manche Erinnerung so lebendig und verklärt? Mag sein, es geht uns "dann" ähnlich wie der betagten Tänzerin, die sich selig im Film ihrer eigenen Jugenderfolge verliert und ganz neu erfaßt, wie schön sie gewesen ist. Oder es geht uns wie dem Buben, den sein Vater, scheinbar grausam, so lange wieder und wieder ins Wasser warf, bis er schwimmen konnte und der dann mit erlöstem Schauder und scharfer Freude an seine Ängste zurückdenkt und dabei weiß, daß die wilde Hoffnung, die ihn auch in der größten Not nie verlassen hatte, trotz allem siegreich und im Recht geblieben ist. Endlich dürfte dem "Verewigten" auch das zeitliche Nachher gegenwärtig sein - das wirkliche aber, nämlich der wirklichen anderen, die nach ihm kommen.

"Mein Himmel wird sein auf Erden Gutes zu tun." (Therese von Lisieux). Dann wäre jede zum Guten wirksame Erinnerung, sei es an einen lieben Verstorbenen, sei es an die eigene Vergangenheit, so sehr sie uns Zeitlichen als bloße Erinnerung vorkommt, von der anderen Seite aus gesehen eine echte Begegnung: gegenwärtiges ewiges Leben als fruchtbar für die Zeit: "Tut dies zu meinem Gedächtnis ..."

Versuchen wir, aus den Bildern eine systematische Begrifflichkeit herauszudestillieren. Jenes erfahrene Wirkliche, das wir "Zeit" heißen, läßt sich nur mit Hilfe zweier grundverschiedener Kategorien verstehen. Der horizontale Aspekt ist meine Lebenszeit als Stück des vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuums. In diesem Sinn reicht das, was ich bin, nicht über den Tod hinaus. Jede andere Auffassung wäre blanker, ungedeckter Mythos.

Der vertikale Aspekt ist meine Lebenszeit als der "Noch-nicht-Pol" des geschöpflichen Bewußtseins, der dem "Dann-Pol" des vergöttlichten Bewußtseins notwendig bewußt vorauf gehen muß, sobald Gott eine echte Geschichte schafft. In diesem Sinn ist der Tod der subjektive Umschlagspunkt beider Bewußtseinsweisen: ich freue mich auf das Leben nach dem Tod. Inhalt dieses Lebens "nach" dem subjektiven, "vertikalen" Tod ist aber kein anderes Leben als das wirkliche zwischen der Zeugung und dem objektiven, "horizontalen" Sterben. "Wie alt werde ich also im Himmel sein?" - Genau so alt wie jetzt: denn an sich bist du schon im Himmel , nur ist es dir noch verborgen. Wie ein Blinder tappst du durch dichten Nebel: was jetzt wirklich geschieht, wird dir erst bewußt, wenn du dann den Infrarotfilm siehst, dessen Star du dein ganzes Leben lang bist.

Ist das aber nicht eine grausame, ja gräßliche Vorstellung? Wenn das Prassen des einen ebenso verewigt wird wie der Schmerzensschrei des anderen: sollen wir auf einen derart ungerechten Himmel nicht lieber pfeifen?

Unterscheiden wir den äußeren, objektiven Inhalt des ewigen Lebens von seiner inneren, subjektiven Form. Jener ist kein anderer als das jeweilige Erdenleben (dein eigenes und das aller mit dir verbundenen Wesen). Diese hingegen richtet sich nach deiner Freiheitstat. Wer wir jetzt sein wollen, nicht was wir jetzt erleben, bestimmt darüber, wie wir uns dann fühlen, wenn der Augenblick da ist, dem kein Zwinkern mehr folgt. Dann erfährt der Prasser seine Nichtigkeit, der Folterer erhält teil am Schmerz seines Opfers, dem erfolglos Hilfsbereiten wird endlich sein Dank.

Dem Bösen wird sein früheres Glück zur Hölle, dem Guten leuchten "rubinengleich die Wunden all". Diese Botschaft ist der einzige letztlich wirksame Balsam; denn er lindert auch die sonst unheilbaren Schmerzen aller von keinem Fortschritt mehr einholbaren Vergangenheiten. Solche Hoffnung ist jedoch weiß Gott kein Opium: weil der Tod als Bewußtseinswandlung jedes je gelebte Jetzt betrifft und auch die Minute, da du dies liest, mit "aufheben" (3x) wird, deshalb sollst du gerade nicht, vom Jetzt absehend, dir ein Leben "nach dem Tod" ausmalen. Denn das wird zwar ganz anders, aber eben kein anderes sein.

O Gott ,ist das herrlich! Sokrates ist nicht tot; unendlich lebendiger, als Platons Zeilen sie schildern, klingt seine gütige Stimme durch die Ewigkeit. Meine beiden Großmütter , die kaum gekannten , sind noch da und warten darauf , mich ganz in ihr fröhlich-schweres Leben einzulassen. Und, unausdenkbare Jahrhunderttausende hindurch, all die Momente blitzender Seligkeit, denen ich entstamme - keiner ist vorbei, alle sind DANN auch für mich, ihren späten Sproß, so gegenwärtig, wie sie damals waren - nein, gewesen sind. Weder Vergangenes noch Vergängliches soll ich betrauern: sobald ein Scheibchen des Welt-Laibes das Brotmesser "Jetzt" passiert hat, fällt es nicht in den Abfall, sondern wird auf prächtiger Platte aufbewahrt für das göttliche Fest. Deshalb Schluß mit dem Krampf der Besorgten! Wir brauchen nichts zu wiederholen. St. Hieronymus war ein interessantes Experiment des Schöpfers , doch wozu es imitieren? Es gibt ihn ja schon - und noch. Dich aber, so wie du dich in deinen besten Stunden entwirfst: dich gibt es nur, wenn du dich nun auch mutig ausführst!

Aus all dem folgt: "Schaut nicht hinauf!" Träumen dürft ihr, aber von der Erde! Die Aussicht auf die Ewigkeit darf dir kein Faulbett sein. Nicht als Opium, sondern als Stimulans wirkt die Hoffnung. Was nicht durch das wirkliche Jetzt sich hindurchgelebt hat, verfehlt Gott. Sieh wieder die Reihe der Menschen, die du bist, und sei dir klar: keine verpaßten oder zurechtgeträumten - nur wirkliche Menschen kommen in den Himmel.

Also: "Laßt euch nicht vertrösten, ihr habt nicht zuviel Zeit!" Packt die Zeit voll mit Wirklichkeit: mit Begegnung, Güte, Spannung, Freude ringsum. Gebt nicht auf. Was heute mißglückt, kann morgen gelingen. Und lassen deine Tage sich nicht mit Tätigkeit anreichern: dann füll sie mit dem Mut deiner aktiven Geduld. Nicht das Greifbare zählt in Gottes Augen, sondern das wirkliche Ja des Herzens. Und das lebt in manchem vergessenen Siechenbett glühender als auf der Faschingsparty nebenan.

Was kommt nach dem Tod? Frag bitte nicht mehr so! Zu viele stoßen sich daran. Das göttliche Ärgernis von Ostern ist groß genug - wir dürfen es nicht durch abgetane Formeln zusätzlich erschweren. Frag zum Beispiel lieber so: Sind meine Lebensstunden lauter Seifenblasen des Nichts oder gültiger Inhalt des ewigen Bewußtseins? Weil Jesus nicht bloß den Tod, sondern überhaupt alle Vergeblichkeit der Zeit überwunden hat, deshalb kannst du gewiß sein: Gott, in seinem strahlenden Jetzt, kennt dich von innen. Diese Tatsache ist dein ewiges Leben. Denn wie könnte er ohne dich, an dir vorbei, dich kennen? Die Elektronenwirbel deines Gehirns kann er von außen kennen - dich aber nur so, daß du dabei bist. Andernfalls fehlte dem göttlichen Erkennen sein Objekt, nämlich du selbst als Subjekt.

"Laßt euch nicht verführen; es kommt kein Morgen mehr."

Es kommt auch keine Nacht mehr. Die meisten sind freilich blind. Wem aber Jesus die Augen berührt hat, dem dämmert die Wahrheit: es ist ewiger Tag.

WAS HEUTE WAR KANN NICHT VERGEHN DAS HERZ DER ZEIT IST GOTT

Februar 1971

Veröffentlicht im Anhang von "Der göttliche Tanz"


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