Jürgen Kuhlmann

Der Dirigent:
ein ökumenisches Gottesbild



Ein Stück Kantoreitheologie

»Wenn es Gott nicht gibt, ist alles erlaubt«, schmettert es bei Dostojewski. Und tatsächlich: Angenommen, keine letztgültige Instanz fordert je Rechenschaft, alle Untaten enden, wie die Freundlichkeiten auch, im selben kalten Nichts - welche Gründe könnte die Ohnmacht dann der höhnischen Übermacht von Nazi- und anderen Verbrechern entgegenschleudern? Sie müßte vor den Quälern verstummen; wollte sie an deren Eigen-Interesse appellieren, hätte sie gar nichts zu sagen. Entsetzlicher Gedanke.

Sein religiöses Gegenteil scheint nicht viel besser. Wurden nicht viele der scheußlichsten Verbrechen gerade »im Namen Gottes« begangen? »Bringt sie alle um, Gott wird die Seinen erkennen,« soll 1209 der päpstliche Legat geantwortet haben, als ein Kommandeur zögerte, den Dom von Béziers anzünden zu lassen - vielleicht hätten sich ja auch Rechtgläubige, nicht nur Katharer in ihn geflüchtet.

Die Frage, ob Religion für eine vernünftige Ethik notwendig oder schädlich sei, läßt sich mithin so allgemein nicht lösen. Was für eine Religion gemeint sei, darauf kommt es an. Genauer: welches Gottesbild den Menschen eingeprägt wird. Ist es ein Gott, der seinen bestimmten Willen durchsetzen will, ohne Rücksicht auf die Freiheit der Anderswollenden - oder bejaht die unendliche Güte alle ihre Geschöpfe, so verschieden, ja gegeneinander deren Energien auch wirken mögen? Dieses Bild scheint Gottes würdiger. Und doch: Ein Gott, der nichts Bestimmtes will, alles laufen läßt wie es mag: wodurch unterscheidet ein solcher Gott sich von gar keinem? Ist Atheismus da nicht der ehrlichere Gedanke? In der Tat ist jene Frage falsch gestellt. Glaubende müssen Gott so verstehen, daß sein bestimmter Wille das Gute aller Wesen bejaht. Wie ist dieser Glaube aber nicht nur abstrakt zu formulieren sondern anschaulich vorstellbar?

»Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist«, so beginnt das Bühnenstück (»Was ihr wollt«), worin - dem Film »Shakespeare in Love« zu glauben - der Dichter sein Liebesglück und -leid verarbeitet hat. Vielfältig nährt Musik die Liebe: weil ihre Melodie die vergehende Zeit zum Stoff gegenwärtiger Schönheit macht; weil ihre Harmonie die Gegensätze aushält und versöhnt. Auch bei unserer Frage hilft die Musik. Jede Sinfonie bedarf nicht nur tönender Klänge, sondern einer unhörbaren Instanz! Ein Sänger erzählt:

»Unser Dirigent ist ein strenger Herr. Wenn der Ingrimm seines Zornes über dem Chor losbricht, duckt sich jeder und erzittert bis in sein Sängermark, hoffend, nicht er sei des Gewitters Anlaß. Auch mächtig ist unser Herr. Schweißüberströmt nach drei Stunden Probe am südlichen Mittag, lechzend nach Trank und Sitz, bleiben wir dennoch willig stehen, weil eine Stelle des Todesliedes noch nicht lebendig genug klingt, und sind stolz auf unsere Schafsgeduld; denn eines solchen Hirten Schaf zu sein, ist eine Ehre.

Streng also und mächtig ist der Herr, daran zweifelt niemand. Und doch habe ich beim Konzert eben einen Blick von ihm aufgefangen, der hat mich noch tiefer getroffen, als seine Macht es je vermochte. Dieser Blick hat das Gegenteil ausgedrückt: restlose Ohnmacht, flehentliche Bitte, unendliche Demut. Ohne euch kann ich doch überhaupt nichts, sagte dieser Blick; wenn ich mich hier vorn noch so sehr abstrampele, nützt das kein bißchen; wollten die Zuhörer die Verrenkungen eines Akrobaten anschauen, dann wären sie in den Zirkus gegangen, nicht ins Konzert. Um zu hören, sind sie von weit her gekommen; ich aber, das wißt ihr doch, ich darf jetzt auch nicht den winzigsten Ton selbst hervorbringen. Zwar umfasse ich die ganze achtstimmige Musik zugleich und auf einmal in meinem Geist: trotzdem brauche ich euch, damit sie hörbar wird. Bitte, mein lieber Sänger, sei jetzt so gut und bring diesen bestimmten Ton genau so heraus wie er klingen muß, damit das Ganze wirklich so sei, wie es in meinem Innern ist. Mein Wille ist dir deutlich genug; mein Mienenspiel, der Tanz meiner Hände zeigen dir an, wie du jetzt tönen sollst: bitte tu es, sonst ist all meine Kunst umsonst.

lch gestehe: dieser Blick hat meinen christlichen Gottesglauben neu geklärt.

Und wie der Meister uns am Ende freudig in die Augen schaut, weil wir seine Musik verwirklicht haben, weht mir unsagbare Osterhoffnung ins Herz. Ja, so ähnlich wird es sein, DANN, wenn wir Menschen unser Lebenslied vollbracht haben. Bis dahin heißt es gehorsam weiter sein, wozu der Wink des Ganzen mich jeweils schafft. Wundere sich keiner, wenn die Wahrheit des zweiten Soprans eine andere ist als die des Basses. Ideologischer Pluralismus ist das Resultat kreatürlicher Polyphonie. Wer an der eigenen Wahrheit darum zweifelt, weil der Nachbar Gegensätzliches glaubt, erniedrigt Gott: in Bach hat das allschöpferische Prinzip sich klarer offenbart als im Rechenlehrer der dritten Klasse. Zwei und drei sind fünf, nichts anderes; Freiheit und Gnade aber, Selbstverwirklichung und Liebe laufen gegen- und miteinander wie die Melodien einer Fuge.«

Am Erlebnis der Doppelwahrheit von Macht und Ohnmacht des Dirigenten klärt sich die Dauer-Spannung zwischen Frommen und Atheisten. Sie sei nicht länger Grund zu kindischem Streit. Ein Konzertsänger ist von beiden Wahrheiten selbstverständlich überzeugt: Ohne Dirigent wäre alles nichts; denn ihm allein verdankt sich das Gesamtwerk - und der Dirigent ist nichts; im gesamten Bereich des Hörbaren kommt er nicht vor, hören lassen sich nur die Stimmen der einzelnen Sänger. Hört also das Publikum den Dirigenten? Weil in unserem Gleichnis das Hörbare für das Seiende überhaupt steht, heißt diese Frage beim kosmischen Konzert so: Gibt es Gott oder nicht? Antworte einer ja oder nein: je nachdem, wie er es meint, hat er stets recht oder unrecht. Vom Chor als mächtig erlebt, ist der Dirigent ein Bild des Herrn der Welt, die Religiösen nennen Ihn Gott. Der Dirigent hingegen, den das Publikum überhaupt nicht hören kann: ist er nicht ein aufregendes Gleichnis des Gottes, der sich vor so vielen guten Menschen verbirgt - so daß sie sich mit Recht »Atheisten« nennen? Anscheinend will Er nicht, daß sie ihn hören. Keine Sorge aber: Beim Schlußbeifall sind sie dabei - wenn Gottes Chor, immer wieder versammelt aus Seinem Volk und den jeweiligen Heiden, Seinen unhörbaren und doch so deutlichen Willen mit Hingabe tut.

Denken wir schließlich an eine junge Chorleiterin, die auch selbst aus voller Brust mitsingt. Eine Stimme nur, versteht sich, keineswegs alle, die sie gleichwohl mit Blick und Hand ermuntert, gegen sich (als Sängerin) anzusingen, damit es zu den nötigen Spannungen komme, die sie (als Dirigentin) für alle schaffen will.

In Jesus übernimmt Gott in Person den cantus firmus der Menschheitsgeschichte - und liebt zugleich die anderen (die ihrem Gewissen folgend gegen das christliche Projekt, wie sie es verstehen, angehen müssen) gewiß nicht weniger als uns Christen, die seine eigene Stimme allzuoft so gräßlich verhunzen ...

Ein Sonett von Franz Werfel, 1938 für Bruno Walter entstanden, zeigt die Doppelheit hilflos / machtvoll. (Wird im Wort »Erlöserzüge« der Text nicht sogar auf einen Höheren hin durchsichtig? Ob dem Dichter der Zufall auffiel, daß der so Gepriesene ausgerechnet »Walter« hieß? »IHN, IHN laß tun und walten!« singt die Christenheit.)


Der Dirigent


Er reicht den Violinen eine Blume
Und ladet sie mit Schmeichelblick zum Tanz.
Verzweifelt bettelt er das Blech um Glanz
Und streut den Flöten kindlich manche Krume.


Tief beugt das Knie er vor dem Heiligtume
Des Pianissimos, der Klangmonstranz;
Doch zausen Stürme seinen Schwalbenschwanz,
Wenn er das Tutti aufpeitscht, sich zum Ruhme.


Mit Fäusten hält er fest den Schlußakkord;
Dann harrt er, hilflos eingepflanzt am Ort,
Dem ausgekommnen Klange nachzuschaun.


Zuletzt, daß er den Beifall, dankend, rüge,
Zeigt er belästigte Erlöserzüge
Und zwingt uns, ihm noch Größres zuzutraun.

Ohne die Autorität des Dirigenten käme es statt zur Symphonie zum Lärmchaos. Wenn es Gott nicht gäbe, wäre das Böse zwar nicht erlaubt, bliebe aber oft unsühnbar, das darf nicht sein. Ohne vernünftige Religion auf die Dauer keine wirksame Ethik; das gilt nicht für jeden Einzelnen, aber für die Menschheit.

Des Dirigenten Autorität darf jedoch nicht von Stimmführern mißbraucht werden. Wohl sollen sie ihre eigene Gruppe trainieren. Wehe aber, sie hetzen ihre Leute auf, Kollegen zu überdröhnen, gar zu prügeln und umzubringen. Das ist nicht im Sinn des wahren Dirigenten, der zum Wohl des Ganzen jede Stimme brauchen will. Wenn ein Trompetenstoß das Pianissimo zerstört, trifft den Trompeter ein Blick, den er in Ewigkeit nicht vergißt, so sehr (an anderer Stelle) sein Jubelton dazu gehört, vom Dirigenten erfleht wird. Nur wenn Religion vernünftig ist, sich stets vor dem Gott verantwortlich weiß, der größer ist als jedes Herz und jede kollektive Gewißheit, nur dann dient Religion der Menschheitsethik, andernfalls wird sie zum Fallstrick. Als Abraham über seinem Sohn das Messer schwang, vernahm er des wahren Gottes Stimme und verstand, daß sein früherer Eindruck - eine Täuschung gewesen war.

Mai 1999


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