Jürgen Kuhlmann

Seiltanz
zwischen Verheißung und Ja

Anlaß: Der aufwühlende Streit zwischen Eugen Drewermann und der amtlichen Kirche
Kernaussage: Jede Konfliktpartei betont einen heilsnotwendigen Wahrheitspol; nur miteinander haben sie recht.
Kurzinhalt: Das aktuelle Thema verdient Aufmerksamkeit - Seiltanz-Gleichnis - Wahrheit des Bischofs: Verheißung ohne tatsächliches Ja könnte Illusion sein - Die Kirche meldet Gottes Jawort - Wahrheit des Seelenhelfers: Ja ohne lebendige Verheißung wäre toter Buchstabe - worin Drewermann recht hat - Heilsspannung Verheißung / Ja - Vorsicht vor Häresie!
Ziel: Der Hörer begreift erleichtert: Er braucht gegen keine Seite zu sein, kann von beiden Wichtiges lernen.

Die einen vergleichen ihn mit Martin Luther, andere finden solchen Vergleich kitschig. Für die einen bringt er neues Leben in eine erstarrte Kirche, für die anderen - in allen Konfessionen - ist er ein Verräter am gemeinsamen Glauben der Christenheit. Der Name Eugen Drewermann bringt Spannung in viele Gespräche. Wovon überall geredet wird, in Fernsehstudios wie beim Friseur, vor diesem Thema, meine ich, sollte unsere Gemeinde sich nicht drücken. Nirgends in der Bibel wird uns der Vogel Strauß als Vorbild empfohlen. Deshalb will ich Ihnen freimütig sagen, wie dieser Streit sich im Lichte des Glaubens mir zeigt. "Freimut" (Parrhesia) ist im Neuen Testament ein wichtiges Wort; Luther, der ja Erfahrung damit hatte, übersetzt "Freudigkeit", und das stimmt: Wo immer ein Mensch sich traut, mutig und frei vor seinen Mitmenschen gerade die Wahrheitsfarbe leuchten zu lassen, die sein Gewissen ihm zeigt, da erfüllt eine seltsame Mischung aus Bangnis und Freude sein Herz; Bangnis, weil der Freimütige sich gegnerischen Angriffen preisgibt; Freude, weil sein Gewissen ihm bestätigt, daß er das Rechte tut.

Beim Nachdenken über den Streit zwischen Drewermann und seinen kirchlichen Kritikern sehe ich plötzlich ein Bild. Stellen Sie sich das Zirkuskind Anima vor, das gern Seil tanzen möchte. Ein Seil ist zwar da, liegt aber schlaff am Boden. Da ruft Anima ihre Freunde, die Clowns Eugen und Bischof: "Bitte spannt mir das Seil aus, ich möchte tanzen." Die beiden lachen und spielen eine Posse: Jeder packt ein Ende des Seils, zieht daran und schreit scheinbar wütend: Laß los, das ist mein Seil! Anima springt aufs Seil, aber noch hängt es durch. "Fester!", ruft sie, und beide ziehen aus Leibeskräften, fast verkrampfen sich ihre Muskeln, straff zittert zwischen ihnen das Seil. Und selig tanzt Anima. Denn sie weiß: Beide lieben mich, keiner läßt los, jeder strengt sich gegen den anderen an, weil wir alle drei miteinander dasselbe wollen: meine Freude.

Vermutlich werden beide Streitparteien dieses friedliche Gleichnis empört von sich weisen. Nicht anders erging es vor bald 500 Jahren der leisen Stimme des Erasmus von Rotterdam, der zugleich katholisch und evangelisch sein wollte und deshalb von Römischen wie Protestanten gleich mißtrauisch verachtet wurde. Heute wissen wir, wie zukunftweisend seine ökumenische Gesinnung war. - Nein, der Vergleich zwischen Drewermann und Luther ist nicht kitschig. Formal trifft er weithin zu: Im Bunde mit einer breiten Öffentlichkeit und von den meisten Medien unterstützt, stellt sich ein Mann gegen die Wucht des Kirchen-Apparats. Inhaltlich allerdings haben die Fronten sich inzwischen verschoben; Katholiken wie Lutheraner finden sich auf beiden Seiten des heutigen Streits, nie wiederholt die Geschichte sich genau. Christen aber - das ist entscheidend - wollen sie alle sein! Diesen Willen haben wir zu achten. Deshalb der Seiltanz-Vergleich. Welches sind aber jene gegensätzlichen Wahrheitspole, deren Kraftfeld für Animas Tanz, d.h. für das überreiche Leben (Joh 10,10) der christlichen Seele notwendig ist?

Da ist zunächst der Pol des Bischofs. Seine Wahrheit heißt: Mancherlei Träume werden von Menschen geträumt, viele sind Schäume. In unseren Seelen wogt es wild durcheinander von Ängsten, Hoffnungen, Offenbarungen, Illusionen. Innere Mächte drohen oder schmeicheln uns - wer aber garantiert, daß es sich nicht bloß um Gespenster, Gespinste, von uns selbst zusammengesponnene Wahnideen handelt? Sie kennen die Geschichte des Regierungsrates, der sich für eine weiße Maus hielt. Nach Wochen im Sanatorium wird er geheilt entlassen, geht zum Parktor und kommt schreiend zurück: Auf dem Pfosten sitze eine riesige Katze! Aber Herr Doktor, beruhigt der Pförtner, Sie wissen doch jetzt, daß Sie keine weiße Maus sind. - Ich schon, keucht er, weiß es aber auch die Katze?

Darum geht es. Die schönste innere Klarheit allein macht es nicht. Egal ob sie aus Träumen, Märchen, heidnischen Religionen stammt oder auch aus dem Evangelium, wie Drewermann es mit tiefenpsychologischer Brille so ergreifend liest, entscheidend ist immer die Frage: Stimmt dieses Gefühl denn auch? Gilt es nur in der Einbildung irgendwelcher Märchendichter und meiner eigenen Wunschphantasie oder ist es eine felsenharte Wahrheit des Ganzen, die auch dem Erdbeben meines Todes standhält und mich in Ewigkeit nicht stürzen läßt?

Ja, heißt die Botschaft der Kirche: Gott hat wirklich in Jesus Christus die Welt mit sich versöhnt, geeint, unauflöslich verbunden. Jesu Kreuzestod war kein Traum, seine Auferstehung ist keine Illusion, beim Abendmahl wird uns (wie das alte Lied betont) eine echte "Garantie" (pignus) auf die künftige Herrlichkeit gegeben. Erlebbares Symbol des überwirklichen Heils ist die "quasijuristische Realität" der amtlichen Kirche: Wenn vor dem Altar das ewige Licht flackert zum Zeichen dafür, daß Christus sakramental da ist, so beugt der Katholik glaubend das Knie; wenn der Pfarrer die Worte der Lossprechung sagt, fühlt nicht bloß (mag sein, er fühlt sehr wenig!), sondern weiß der Evangelische, im Glauben wohl, aber da weiß er, daß Gott ihm seine Sünden vergeben hat. Die überdiamantene Härte dieses "Daß" ist der Seinsgrund der Kirche; gleich einem unschmelzbaren Pfeil fährt es durch die harte Erdrinde und, tiefer, durch die brodelnde Gefühlsglut des Erdleibes bis zur innersten Mitte der Realität, um von dort aus alles zu erlösen. Ohne diese Wahrheit des Bischofs hätte die des Propheten dem Illusionsverdacht nichts zu erwidern.

Umgekehrt wäre aber die Wahrheit des Bischofs ohne die des Propheten nichts als toter Buchstabe. Damit kommen wir zum anderen Ende des Seils, auf dem die glaubende Seele vor Gott tanzt. Wer Drewermanns heiße Worte dazu, "worum es eigentlich geht," unbefangen liest, muß dem Ankläger seiner Kirche recht geben. Jesus wollte keine neue Religion, sondern die Ernstnahme der prophetischen Verheißungen? Richtig. Täglich ist zu sehen, wie irrsinnig und widergöttlich der ganz alltägliche Umgang in Kirche und Gesellschaft wirken kann? So ist es leider. Eltern können in der offiziellen theologischen Sprache ihren Glauben den eigenen Kindern nicht mehr weitergeben? Bitter wahr, wenigen geht es anders. Ein Generationenbruch geschieht? Offenkundig, die alten Rezepte genügen nicht mehr. Man muß Jesu prophetischen Protest in unserer Zeit erneuern? Aber ja! Denn so, wie das Wort der Kirche häufig daherkommt, in veralteten Bildern und Begriffen, bürokratisch verformelt, unfroh moralisierend, von Langeweile überkrustet, so gebremst bleibt der Pfeil des göttlichen Ja schon in der Erdoberfläche stecken, erreicht gar nicht unser glühendes Inneres und hat keine Chance, uns von unserer Mitte aus heil zu machen.

Ein kaum bekannter Satz des heiligen Paulus enthält beide Pole, läßt Animas Seil herrlich federn: "Was da ist an Verheißungen Gottes: in ihm (Christus) ist das Ja" (2 Kor 1,20). Wer bloß auf die Verheißungen blicken wollte - indem er Träume, Märchen, Gleichnisse Jesu und heilsgeschichtliche Ereignisse auf ihre je besonderen Hoffnungsfarben hin untersucht - das wirklich geschehene, "unter Pontius Pilatus" irdische Realität gewordene Ja aber ausblendet, der könnte ein herzlich glaubender Mensch sein, als Heilsprophet viele Menschen begeistern, ein Christ wäre er nicht.

Wer umgekehrt auf das faßbare Ja pocht, sich aber um die vom Ja bejahten Verheißungen nicht kümmert, der macht es wie ein besonders dummer Ehemann: statt auf die Wünsche seiner Frau zu lauschen und sie liebevoll zu erfüllen, malt er mit klobigen Buchstaben das Wort "JA" an den Küchenschrank und schlägt ihr, damit sie sich auf diese Frohbotschaft brav konzentriere, andauernd die schweren Siegel der Heiratsurkunde um die Ohren. Wen wunderts, wenn sie ihm wegläuft? Weil die Realität unendlich viel mehr ist als bloß real, deshalb ist Nur-Realismus höchst unrealistisch. Wehe den Verantwortlichen im Volke Gottes, wenn sie der Braut Kirche ein solches Zerrbild ihres Herrn vorspielen! Auch sie wären keine Christen, sondern stünden in der Nachfolge jener Hohenpriester, die an Jesu Tod mitgewirkt haben.

Verstehen Sie mich recht: Nur Gott richtet uns Menschen. In seinen Augen, so laßt uns hoffen, ist keiner der am Konflikt Beteiligten derart einseitig, daß er den Gegenpol häretisch leugnet, seinem Widerpart das Seil ernsthaft aus der Hand reißen will. Äußerlich, vor der großen Öffentlichkeit, die nur "klare und eideutige" Sätze vernehmen kann, muß der eine Pol sich freilich gegen den anderen kehren, andernfalls würde das Seil nicht federn. Natürlich weiß aber auch der Bischof und sagt es jeden Sonntag im Credo, daß Christus "für uns Menschen und um unseres Heiles willen" einer von uns geworden ist - und nicht zur größeren Ehre einer Religionsbehörde. Ebenso bekennt auch der streitbare Psychotheologe ausdrücklich seinen Glauben an Jesus und, dank ihm, an den persönlichen Gott. Schenke Er beiden Seiten die Gnade, ihren Gegensatz vom Widerspruch zu erlösen, damit die heilsame Spannung nicht zu heilloser Spaltung werde, so daß Anima abstürzt. Dann würde die christliche Drewermann-Gemeinde zu einer häretischen Sekte mit bald eigenen, nicht geistlicheren, nur kleinlicheren Amtsstrukturen. Und die offizielle Großkirche müßte, nach außen und innen, noch geistloser scheinen, als sie das jetzt schon tut.

Wollen wir deshalb die ineinander Verbissenen herzlich "an Christi statt bitten: Laßt euch (untereinander und nur so auch) mit Gott versöhnen" (2 Kor 5,20). Dazu helfen kann jeder von uns, indem seine Seele mutig auf dem zwischen Verheißung und Ja ausgespannten Glaubensseil Gott entgegen tanzt. Je lebendiger Christen das tun, um so deutlicher wird den beiden Seil-Straffern der Sinn ihres Tuns, so daß sie - trotz weiterhin verkrampfter Muskeln - einander doch zugleich freundschaftlich zulachen können.

(Die Farce der Clowns Eugen und Bischof wurde veröffentlicht in Imprimatur vom 4. Oktober 1992, S. 310-312.)


Volle Internet-Adresse dieser Seite: http://www.stereo-denken.de/drewerma.htm

Zurück zur Leitseite von Jürgen Kuhlmann

Siehe auch des Verfassers Predigtkorb auf dem katholischen Server www.kath.de

sowie seinen neuen (seit Ende 2000) Internet-Auftritt Stereo-Denken
samt Geschichte dieses Begriffs und lustigem Stereo-Portrait

Schriftenverzeichnis

Kommentare bitte an Jürgen Kuhlmann