Jürgen Kuhlmann

EDV-OSTERN

So ähnlich müssen manche Ostergeschichten der Urchristen sich ereignet haben. Man las die Bibel (das Alte Testament, sagen wir heute), verstand auf einmal, was mit Jesus passiert war, und spürte dabei: solche Einsicht war kein Zufall, sondern wurde auf wunderbare Weise von Ihm, dem Auferstandenen selbst, seinen Freunden ins Herz gesandt. Schwärmerei? Die Osterberichte der Evangelien strahlen zwar eine mitreißend sichere Freude aus, klingen aber zugleich unfanatisch nüchtern.

"Gehet hin zu allen Völkern und verkündet die Freudenbotschaft allen Geschöpfen," in ihren Sprachen, versteht sich. Läßt sie sich auch dem rasant wachsenden Computervölkchen, das in wenigen Jahrzehnten ein riesiges Volk sein wird, in seiner Sprache ausrichten? Bis gestern abend hätte ich das bezweifelt; jetzt weiß ich, daß es geht.

Die ersten Wochen des Umgangs mit einem mächtigen Textverarbeitungsprogramm sind voller Abenteuer, vor allem, wenn man kein Handbuch hat und alles selbst entdecken muß, sozusagen als Naturforscher dieser besonderen Welt (Der Begriff "Welt" ist bei Informatikern üblich, sie reden unbefangen von der MS-DOS-Welt, der Unix-Welt usw.). Eben hatte ich entdeckt, daß man die Schreib- und Leseköpfe des Laufwerks schonen kann, indem man innerhalb des Arbeitsspeichers eine Provinz ausgrenzt und zur "virtuellen Diskette" C erklärt, sie wird vom Programm wie ein drittes Laufwerk akzeptiert, der Zugriff geschieht aber schonender und schneller. Ihre Größe hatte ich knapp bemessen, nur das Nötigste sollte ja dort Platz finden. Dann machte ich mich ans Tippen.

Und nun geschah das Seltsame, das ich nicht für einen Zufall halten kann. Auf der zweiten Seite geht es um das furchtbare Thema, wie Jesus bei seinem Sterben beide Verzweiflungen erlitten hat, die des frommen und die des autonomen Menschen. Ich hatte geschrieben: Das gehorsamste Du ist von Gott verlassen, das freieste Ich kann kein Glied mehr rühren. Da geht es nicht mehr weiter. Ich bezeuge, daß es genau an dieser Stelle war. In der Zeile rührt sich nichts mehr. Doch ein aufgeregtes Zirpen ertönt, und unten erscheint eine Botschaft: "Die Programmdiskette ist voll, bitte sofort speichern."

Ich erschrecke. Es wäre nicht das erste Mal, daß die Frucht einiger Bildschirmarbeitsstunden unrettbar verlorengeht. Heiß überrieselt mich der Verdacht, daß die allzu knapp bemessene virtuelle Diskette vielleicht der Grund ist: anscheinend schreibt das Programm den Text zwischendurch immer wieder auf die Programmdiskette, damit beim Weltuntergang des Arbeitsspeichers (durch Stromausfall) nicht alles Geschriebene weg sei. Davon hatte ich nichts geahnt. Was nun? Ich versuche, zu speichern. Wieder das Gezirp, noch aufgeregter, kommt mir vor, und dieselbe Botschaft. Ich begreife gar nichts. Bis mir einfällt: Halt, vielleicht will das dumme Ding auf die virtuelle Diskette speichern, die ja eh' schon voll ist. Also gebe ich das Laufwerk B mit an (wo eine reale Diskette wartet), samt einem längeren Dateinamen. Wieder Zirpen und die nämliche Meldung. Jetzt überfällt mich Panik. Ist der Text zu retten? Ein letzter Versuch. War der Speicher am Ende von dem langen Dateinamen überfordert, hat aber vielleicht für einen winzigen noch Platz? Ohne viel Hoffnung gebe ich "b:b" ein und - o Freude, das rote Licht erglimmt und es erscheint die Meldung: "Ich speichere Ihre Datei." Erleichtertes Aufatmen. Fast so etwas wie Dankbarkeit gegen die verläßliche Elektronik steigt in mir auf.

Oder meint sie jemand anderen? Erst Stunden später, mitten in der Nacht, verstehe ich plötzlich, welch überwältigendes Zeichen mir geschenkt worden ist. Ans Kreuz war Jesus festgenagelt, kein Glied konnte er mehr rühren, nicht einmal die Unmenge Fliegen und Bremsen verscheuchen, die der Blutgeruch angelockt hat ... In dieser Welt ging es nicht mehr weiter. War der Text seines Lebens rettungslos verloren? Anscheinend ja. Höhnisch grinsen die Feinde, die meisten Freunde sind weit weg. Ist alles aus? Wenn diese Welt das Ganze ist, bleibt allein die Verzweiflung. Oder gibt es am Ende einen "permanenten Speicher" und findet sich ein Zugang zu ihm? "Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist," stöhnt der Sterbende, und wir Christen sind gewiß, nicht ins Leere. Das Osterlicht leuchtet auf, und in die verzagte Todeswelt dringt die Botschaft voll Leben und Sinn.

Na und? So denkt jetzt vielleicht mancher. Mag er. Nicht jedes Zeichen ist für jeden. Die Deutung ist aber noch nicht zu Ende. Noch etwas geht mir auf: Jenes fast-Unheil hat mich vor weit größerem Schaden bewahrt. Wäre nämlich auf der Programmdiskette genügend Platz gewesen, so hätte ich nicht gemerkt, daß die Speicherung bloß innerhalb der virtuellen Diskette erfolgte, hätte das Gerät ausgeschaltet, der permanente Speicher B wäre leer geblieben und mein Text samt seiner ganzen C-Welt für immer untergegangen. Daß sich nichts mehr rührte, kommt also allen künftigen Texten zugute.

Ähnlich im Großen: Daß der menschlichste aller Menschen in dieser Welt scheitern mußte, geschah ihr zum Heil. Nicht nur ihre Brüchigkeit hat sich damals enthüllt (so daß sie einen Glaubenden seither nicht mehr im Innersten packen und würgen kann), sondern der Glaube ist auch durchgebrochen zur Unzerstörbarkeit aller "Daten", aller Wirklichkeiten, die es je "gegeben" hat. Nichts davon ist verloren; jeglicher Text, wörtlich: jedes (Sinn-)Gewebe bleibt ewig erhalten: zu seinem Jubel (Himmel) oder seiner Schande (Hölle), je nachdem, wie es am Ende ins allumfassende Konzept des Ganzen paßt, das sich uns - in Christus - als die LIEBE offenbart hat.

Ja: alle unsere Tage vollziehen sich in der RAM-disk dieser Welt, die dem sicheren Untergang bestimmt ist. Wer das bei seinem Lebensprogramm vergißt, läuft Gefahr, jenen Text, der er selber ist, unrettbar zu verlieren. Da erinnere er sich an den zentralen Moment der Heilsgeschichte, als die Substanz unserer Wirklichkeit ihre Ohnmacht erwies, weil sie den besten Menschen in Angst und Schmerz umkommen ließ. Für jeden von uns kommt der Augenblick, da er kein Glied mehr rühren kann. Möge unser letztes winziges Lebenszeichen dann die tröstliche Antwort erfahren:

Hab keine Angst. ICH speichere dich.

Dezember 1987

Veröffentlicht in "Christ in der Gegenwart" 1988 (Nr. 15), S. 126

Volle Internet-Adresse dieser Seite: http://www.stereo-denken.de/dvostern.htm

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Siehe auch des Verfassers Predigtkorb auf dem katholischen Server www.kath.de

sowie seinen neuen (seit Ende 2000) Internet-Auftritt Stereo-Denken
samt Geschichte dieses Begriffs und lustigem Stereo-Portrait

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