Stefan Zweig

SINGENDE FONTÄNE

Gedicht zum Auswendig-Lernen


BLAUER Blick des Mondenscheines
Kühlte meines Zimmers Wand;
Da hört ich die Stimme eines,
Der im Dunkel unten stand.

Und wie ich die Scheibe staunend
Zu dem Garten niederbog,
War es Singen, süß und raunend,
Das zu mir ans Fenster flog.

Keinen sah ich. Nur im Dunkeln
Blinkte das erhellte Spiel
Der Fontäne, die mit Funkeln
In die Stille niederfiel.

Unruhvoll und doch beständig
Schien das silberne Getön
Wie ein lautes Herz lebendig
Durch die Brust der Nacht zu gehn.

Und ich fragte: "Warum rauschst du
Heute mir zum erstenmal?" –
Und ich horchte: "Warum lauschst du
Heute mir zum erstenmal?

In das heiße Gold der Tage,
Stumm im Steigen, Lied im Fall,
Durch den Samt der Nächte trage
Stet ich den erregten Schwall

Meiner eignen Überfülle,
Und du, der mir nahe ruhst,
Wirst erst durch den Gruß der Stille
Unsrer Brüderschaft bewußt?

Hast du nie denn an der Schwelle
Des Erwachens wirr gefühlt,
Daß dir eine lautre Welle
Nächtens durch dein Herz gespült,

Daß mein Singen dich durchwebte
Und im Schlafe aufwärts schwoll,
Bis es Blut im Blute lebte
Und an deine Lippen quoll,

Bis als Lied der eingeengte
Schauer einer fremden Lust,
Die ein Traum in dich versenkte,
Wild aufbrach aus deiner Brust?

So in dein Geschick verflechte
Ich mir meines Lebens Spur,
Und bin doch im Kreis der Mächte
Eine leise Stimme nur.

Eines von den stummen Dingen,
Die dein Wesen zauberhaft
Und geheimnisvoll durchdringen
Und von deren steter Kraft

Nur verloren-leise Kunde
Manchmal deine Seele faßt,
Wenn du dich hinab zum Grunde
Eines Traums getastet hast." -

Immer ferner schien der Schimmer,
Immer dunkler Wort und Sinn,
Doch mein Herz lauschte noch immer
Nach der weißen Stimme hin,

Die vom Garten, bald wie Trauer,
Bald wie Lächeln, wundersam
Über Bäume, Busch und Mauer
Schwebend an mein Lager kam,

Und an meine Brust sich schmiegend
Ihrer Worte Wiege schwang,
Bis ich schon in Schlummer liegend
Glanz nur fühlte und Gesang.


Stefan Zweig, Die gesammelten Gedichte, Insel-Verlag zu Leipzig (1924), 63-65

Dieses Gedicht liebe ich seit 1953, als Pater Ludwig, unser Deutschlehrer in der vorletzten Klasse des Benediktiner-Gymnasiums St.Stephan in Augsburg, es uns auswendiglernen ließ. Im Frühjahr 2005 hat Herr Rosenberg, der in der Nürnberger Stadtbibliothek die Sammlung der Israelitischen Kultusgemeinde betreut, mir freundlicherweise den korrekten Text beschafft, obwohl das Buch derzeit restauriert wird und nicht verfügbar ist. Im Gedächtnis war eine Stelle (im Dunkel[n]) falsch gespeichert. Jetzt hoffe ich, daß junge Menschen die Strophen lernen und weiter überliefern.


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