Jürgen Kuhlmann

Panzer wie Spreu

Die Mögeldorfer Kantorei
auf Konzertreise in Polen


»Mitten in der Höllen Angst unsre Sünd uns treiben.« Am Tag nach Allerseelen 1999 klingt durch die Halle der Augustinuskirche im ehemaligen Ghetto von Warschau das Lied Martin Luthers im Tonsatz von Mendelssohn, gesungen von einem Nürnberger Chor. Die machtvolle Musik, uns Sängern altvertraut, ist heute verwandelt. Vor wenigen Stunden waren wir in den letzten noch stehenden Ghetto-Häusern auf die Treppenstufen getreten, über die sich die Fastverhungerten damals in ihre Wohnungen schleppten, wo sie zu acht in einem Zimmer froren. Deutsche Kommandos wurden gebellt, unsere Leute stürzten hier hunderttausende Kinder, Frauen und Männer in die Verzweiflung, bevor sie im Herbst 1944, nach dem polnischen Aufstand, neun Zehntel der Hauptstadt systematisch in Trümmer legten. »Wo solln wir denn fliehen hin, da wir mögen bleiben?«

»Zu dir, Herr Christ, alleine.« Durch die Asche der Schande bricht die erlösende Glaubensflamme. Nicht nur aus dem Volk jener Verbrecher sind wir. Als Heidenchristen von Gott in den Ölbaum Israel eingepflanzt (Röm 11), dürfen wir auch zum Volk des Glaubens gehören, das durch Jahrtausende hin eines ist. Dieselben Psalmverse, die wir singen, haben hier im Ghetto manch gläubigen Juden innerlich aufgerichtet, in aller Verlorenheit seinen Peinigern unerreichbar gemacht. »Richte mich, Gott, und führe meine Sache wider das unheilige Volk!« Die Gottlosen sind »wie Spreu, die der Wind zerstreuet«. Dahin sind Stahlhelme und Panzer der SS, lebendig die uralten Worte, damals aus verängstigten Herzen geflüstert. »Der Gottlosen Weg vergehet«, bekennen wir mit Heinrich Schütz. In keinem früheren Konzert habe ich das so erbittert gerufen, und triumphierend zugleich.

Ein altertümlicher Ausdruck eines Reger-Chorals erhält plötzlich einen scharf-seligen Sinn. Das innige Lied verdient Bekanntheit: »Der Mensch lebt und bestehet nur eine kleine Zeit, und alle Welt vergehet mit ihrer Herrlichkeit. Es ist nur Einer ewig und an allen Enden und wir in seinen Händen.« An allen Enden hatte mir bisher schlicht »überall« bedeutet. Im Ghetto jedoch, wo Gottes Kindern mit behördlicher Herzlosigkeit das Ende verfügt wurde, wo für soviele junge Liebespaare jede Zukunft schon vor ihrem Beginn zu Ende war, da mutet sich der fassungslosen Hoffnung das Ungeheure zu: Die Gute Macht des Anfangs ist auch in jedem Enden stark, der EINE, den Israel als seinen Gott bekennt, verliert aus seinen Händen niemanden, will selbst unser un-endliches Ziel sein. Sein trostvolles Zeichen sind an diesem Ort des Grauens heute abend die Gesänge des Glaubens in ihrer unzerstörbaren Schönheit und Gültigkeit.

Warschau, 4. November 1999


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