Jürgen Kuhlmann

Balancierender Glaube

"Wer nicht verrückt wird, der ist nicht normal", singt Hilde Knef mir aus dem Herzen. Ich komme gerade von einer Art neuer Exerzitien, wo Christen fünf Tage lang intensiv den Willen Gottes zu erkennen und einzuüben versuchten. Eine aufrüttelnde Tiefenerfahrung, hoffentlich hält ihr Schwung lange vor. Doch eines ist das Leben des Glaubens, ein anderes sein Verständnis, der eine ist der - theoretische - Anspruch, das andere die Wirklichkeit.

Schizophrenie oder Zwangskrankheit - in dieser Zwickmühle scheint zu stecken, wer sich auf Gottes Anspruch einläßt zwischen sonntäglichem Gottesdienst und säkularisiertem Alltag. Wer nicht vollständig auf Gottes Anspruch eingeht, sondern - als "Sonntagschrist" - nur in einem abgegrenzten religiösen Bereich, der sei, so heißt es, im Grunde schizophren. Wer hingegen in einem fort nach dem Willen Gottes fragen muß, wie soll der nicht nervös werden, nämlich zwangsneurotisch? Wenn einer nicht das winzigste private Fleckchen für sich hat sondern Tag und Nacht auf Gott hören soll?

Beiden Extremen zu entkommen, wußten manche Leute keinen anderen Ausweg als den Atheismus: mit der Idee eines Gottes scheint auch das Problem abgeschafft, das sein einschneidender Wille uns stellt. Christlicher Ansicht nach führt diese Sackgasse allerdings bloß in eine weitere Ausweglosigkeit, nämlich in die absolute Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit des Ganzen. Wir aber überlegen uns, wie wir an Gott glauben und trotzdem die Zwickmühle vermeiden können.

Daß jedwede Einschränkung des göttlichen Anspruchs Schizophrenie wäre, diese Diagnose stellt ein Mann mit der Doppelautorität des Bischofs und des modernen Theologen: "Wir sind vielleicht sogar sehr religiös; aber wir sind es nur in Sachen Religion. Frömmigkeit ist ein Bezirk, und so lange wir uns in diesem Bezirk aufhalten, ist Gott hundertprozentig Gott; aber der Bezirk Religion nimmt keine hundert Prozent unseres Lebens ein, er ist ein Naturschutzpark, in den wir uns zur Erbauung, Erholung und Vertiefung, in den Muße-, Stern- und Krisenstunden unseres Daseins flüchten. Zwischen diesen Bezirk und den grauen Alltag aber schiebt sich etwas wie eine dicke, kugelsichere Glasscheibe. Wenn wir, so ganz normal, in der Familie, im Beruf, in der Politik unsere Dinge tun, dann läuft das einfach in sich selber ab; man könnte geradezu von einer Schizophrenie unseres Verhaltens sprechen. Und wenn wir dem entgegenhalten, es gehe doch gar nicht anders, Gott selber wolle doch, daß man den Wert der verschiedenen Daseinsbereiche beachte und nicht verwische, dann bleibt Gott eben doch nur Sektionschef, Abteilungsleiter; er hört auf, der Gott zu sein, dem alles gehört, der Gott, der alles in allem ist" (Klaus Hemmerle, "Im Konkurrenzkampf der Weltanschauungen", München 1978, S. 16 f).

Standpunkt oder Seiltanz

Wie umgekehrt ein Mensch, der sich ganz von Gott beschlagnahmt fühlt, in eine schreckliche Neurose stürzen kann, schreibt Tilman Moser sich wütend von der Seele: "Aber weißt du, was das Schlimmste ist, das sie mir über dich erzählt haben? Es ist die tückisch ausgestreute Überzeugung, daß du alles hörst und alles siehst und auch die geheimsten Gedanken erkennen kannst. Hier hakte es sehr früh aus mit der Menschenwürde; doch dies ist ein Begriff der Erwachsenenwelt. In der Kinderwelt sieht das dann so aus, daß man sich elend, fühlt, weil du einem lauernd und ohne Pausen des Erbarmens zusiehst und zuhörst und mit Gedankenlesen beschäftigt bist ... Fast zwanzig Jahre lang war es mein oberstes Ziel, dir zu gefallen. Das bedeutet nicht daß ich besonders brav gewesen wäre, sondern daß ich immer und überall Schuldgefühle hatte ... Ich habe nicht eine Spur von Fairneß bei dir verspürt, du warst von erdrückender, rücksichtslos, grausam und hinterhältig eingesetzter Überlegenheit, und meine kindliche Schwäche und Wehrlosigkeit haben dich gar nicht geniert, im Gegenteil, du gedeihst ja nur, solange man wehrlos ist" (in: "Gottesvergiftung", Frankfurt 1976, S. 13-21).

Herr, wie hilfst Du uns heraus aus diesem Labyrinth? Es kann nicht sein, daß Du uns nur diese Wahl läßt. Und wenn es unserem Denken so scheint, dann stimmt doch wohl dieses Denken nicht, dann sind die Wörter und Begriffe nicht in Ordnung, mit denen wir uns Deinen Willen ausdrücken ...

Alles muß irgendwie ganz anders sein. Aber wie?

Ich glaube allmählich, daß der Wurm in der Methode sitzt, mit der wir an diese Frage herangegangen sind. Wir haben versucht, einen richtigen "Standpunkt" zu finden. Genau das ist jedoch falsch, verhängnisvoller Unsinn. "Er hatte einen Horizont mit dem Radius Null, und den nannte er seinen Standpunkt" - der Spruch trifft nicht das Problem. Nicht auf den weiten oder engen Horizont kommt es an, sondern daß man überhaupt auf einem "Standpunkt" beharrt. Ein stehendes Jetzt ist uns für das ewige Leben verheißen, bis dahin ist die gelebte Wahrheit viel eher dem beschwingten Gang einer Drahtseil-Tänzerin zu vergleichen. Unbewegten Standpunkt gibt es für sie keinen, oben muß sie ihren Stand stets neu ausbalancieren.

Die scharfe Entscheidung "rechts oder links" kommt zum Beispiel für die seiltanzende Seele nicht in Betracht. Nur wenn sie abstürzte, müßte dies auf einer bestimmten Seite geschehen: solange sie sich lebendig hält, steht sie mal mit dem rechten, mal mit dem linken Fuß auf dem (zwischen beiden Unmöglichkeiten zitternden und dabei) unendlich festen Seil des Glaubens. Freilich ist gelebter Glaube keine komplizierte Akrobatik, sondern wird wie jede vertraute Kunst zur zweiten Natur, zur Normalität, Wem das Seiltanz-Gleichnis zu extravagant vorkommt, der darf auch auf einem Kreidestrich übers Pflaster schreiten. Gehen allerdings soll er, keinesfalls sich auf eine "Position" versteifen.

Wie Ignatius mit dem Teufel umspringt

Also: hundertprozentig und ohne "Sektoren" für Gott - oder nicht? Wenn eine innere Stimme uns hier auf einen bestimmten Standpunkt festlegen will, dann ist es keine gute. Ein begnadeter Experte des Willens Gottes war Ignatius von Loyola. In einem seiner ersten erhaltenen Briefe (18. Juni 1536) schreibt er, wie dialektisch er mit dem Teufel umspringt: "Stellt er mir die Gerechtigkeit vor Augen, dann ich das Erbarmen; wenn er Erbarmen ist, dann sage ich dagegen die Gerechtigkeit So tut es not, daß wir gehen, damit wir nicht verwirrt werden, so daß der Spötter den Spott habe."

Nein, Gottes Wille ist keine hundertprozentige Last und: Nein, Gottes Wille ist nicht auf irgendwelche Bezirke eingeschränkt, so daß er uns weithin nichts anginge. Gottes Wille ist total, nicht totalitär. Unser Leben mit ihm ist Hingabe und Selbständigkeit - und doch nicht gespalten. Von einem Teilnehmer jener Glaubenstage stammt der schöne Satz: Gott will etwas für uns, nicht von uns.

Was heißt das aber in der Praxis? Weder rechts noch links darf ich vom Hochseil stürzen - oder vom Kreidestrich abweichen -, doch muß ich jeweils gewiß sein, ob ich mit dem rechten oder dem linken Fuß auftreten soll. Heißt es jetzt demütig Gott nach seinem Willen fragen? Oder soll ich konzentriert das tun, was gerade mir das Rechte scheint?

"Ich will ganz Dir gehören und Du willst, daß ich mich ganz selbst verwirkliche und nicht nur ein paar Fragmente meiner, die Mode sind. Wo die Liebe bestimmt, stehen Du und Ich nicht mehr gegeneinander."

Trotzdem bleiben beide Einstellungen im Ausdruck verschieden. Wann ist die eine dran und wann die andere?

Hier irgendeine kasuistische, im weitesten Sinn institutionelle Antwort zu suchen, wäre schon der Absturz nach links. Gottes Willen nur in der Kirche zu erwarten und nicht am Arbeitsplatz, eher am Sonntag als am Mittwoch, mehr im Pfarrgemeinderat als im Familienalltag - das hieße genau der beschworenen Schizophrenie verfallen. Nein, unser Leben ist eines und als ganzes bereit, Deinen Willen zu vernehmen.

Anderseits ist hier nicht der Ort, die "Regeln zur Unterscheidung der Geister" im einzelnen zu erläutern, wie die Weisheit der christlichen Jahrhunderte sie herausgefunden hat. Statt dessen sei auf ein Wörtlein der Bibel aufmerksam gemacht, auf das winzige "Wenn".

Petrus zwischen Boot und Wasser

Die ganze Nacht haben die Jünger gegen den Wind angerudert, weit vom Ufer treibt ihr Boot. Da, was ist das? "Es ist ein Gespenst, sagten sie, und schrien auf vor Angst!" Jesus gibt sich zu erkennen und macht ihnen Mut Da antwortete Petrus: "Herr, wenn du es bist, so laß mich auf dem Wasser zu dir kommen. Jesus sagte: Komm!" (Mt 14,26 f).

Fischer in ihrem Boot sind Fachleute, hier gilt das kirchliche Wort von der "Eigengesetzlichkeit der weltlichen Bereiche". Zwar stehen sie als ganze unter dem Anspruch des Willens Gottes, aber dieser Anspruch "aktualisiert" sich nicht immer. Solange alles routinemäßig abläuft oder die auftretenden Fragen rein sachlich zu lösen sind, so lange will Gott gewissermaßen nicht, daß wir ihn noch eigens nach seinem Willen fragen. Kommt die Welle von links oder rechts, so weiß Petrus selber, wie er zu steuern hat, das hat er in seinem Fischerberuf gelernt.

Da, eine Gestalt auf dem Wasser! Falls sie ein Gespenst ist, wird Petrus keinesfalls aufs Wasser hinaus treten, vielmehr werden die Jünger noch kräftiger und kundiger rudern müssen, bloß schnell weg von der unheimlichen Erscheinung. Anders, falls es kein Gespenst, sondern wirklich Jesus selbst ist: dann ist das Boot mitsamt seinen Ruderregeln plötzlich nicht mehr wichtig. "Herr, wenn du es bist," ruft Petrus; in diesem Fall hält ihn nichts im Boot, hinaus will er, zu seinem Freund und Herrn. Und wirklich lockt die geliebte Stimme: Komm! Der weitere Verlauf ist bekannt alle haben wir das eigene Versinken und Gottes rettenden Arm oft genug verspürt.

Kein Gespenst ...

Damit ist klar, wann die Frage nach Gottes Willen "dran" ist: sooft ich Grund habe, "wenn du es bist" zu sagen. Weil etwas oder jemand meine Routine stört; weil ausgetretene Pfade nicht mehr weiter führen; weil eine innere Stimme am Bohren ist; weil mir eine phantastische Vision aufgegangen ist; weil ein Mensch etwas von mir will, was ich nicht will; weil die Tram, die ich bin, auf eine Weiche zurollt.

Dann kann es sein, daß die Antwort negativ ausfällt, daß der scheinbare Wille Gottes sich als Gespinst herausstellt Dann heißt es im Boot bleiben und tapfer weiterrudern, hatte doch Jesus selbst die Jünger ins Boot "gedrängt" (Mt 14,22). Ein Gespenst kann zwar selbst auf dem Wasser gehen, mich vor dem Versinken retten wird es nicht, Wer unseligerweise sein eigenes krankes Über-Ich "Gott" zu nennen gelehrt wird, er wird, wie Tilmann Moser, seine "Gebete im Morgengrauen" nicht an den lebendigen Gott richten. Der Christ glaubt sich aus der bösen Macht befreit, weil nicht das Gespenst eines antlitzlosen Über-Ich auf Gottes Thron sitzt, sondern der Auferstandene mit seinem menschenfreundlichen, menschlichen Herzen. Tun wir alles und helfen wir einander, seiner Güte und Zuwendung zu trauen - und nicht einem grausamen Gespinst unseres Unterbewußtseins!

"Wenn du es bist" - es kann auch sein, daß ich daraufhin jenes tief vertraute "Komm" hören darf. Dann ist alles klar, auch wenn die Wellen anstürmen und meine Freunde im Boot noch so eifrig warnen. Folgendes schrieb der Exeget Cornelius a Lapide (um 1630) zu unserer Stelle: "Denn nur Gott kann sich ins Gemüt einschmiegen und ihm gewisse Zeichen seiner Gegenwart geben (wenn die uns auch unbekannt sind und nur dem bekannt, der sie erfährt), womit er die Seele gewiß macht daß er ihr innerlich zuspricht, nicht ein Engel oder Teufel ... So ist es hier dem Petrus ergangen: er bittet Christus um innere und äußere Zeichen der Sicherheit, die allen Zweifel von der Seele ausschließen, und Christus gewährt ihm solche, indem er sagt: Komm. Dank ihrer war Petrus gewiß, daß dies Christi Stimme sei, nicht die irgendeines Gespenstes oder Teufels."

"Das ist nicht das Herz", sagt Fritz Perls, der Begründer der Gestalttherapie, und macht die Faust. "Das ist nicht das Herz", hält er die offene Hand hin. "Das ist das Herz", macht er seine Hand rhythmisch auf und zu. Ein packendes Symbol! Hat die Seele beide Weisen durchgefühlt - Gottes totalen Anspruch erst hinter Ordnungsmauern ausgesperrt, dann als tyrannischen Zwang erlitten (oder umgekehrt) -, dann sollte sie reif geworden sein. Die beiden vorläufigen Mono-Standpunkte verläßt sie und tanzt auf dem Glaubensseil frei ihrem Gott entgegen.

(Veröffentlicht in "Christ in der Gegenwart" v. 21.02.1982, S. 61 f)


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