Jürgen Kuhlmann

Jocki und der Innenseher
Eine Abenteuergeschichte
für das Kind
im Mann und in der Frau


6


Das Paradies

Blau lag es noch eben vor mir, lau umfängt es mich jetzt, die tief in es Eingetauchte, das Meer. Friedlich schwimme ich dahin, die Sauerstoff-Flasche versorgt mich. Bunte Fische in nie geahnter Pracht gleiten an mir vorüber. Keine Zeit, keine drängenden Ziele verspüre ich, nur ruhiges, in sich gesammeltes Leben. So ähnlich muß es ganz früher gewesen sein, als ich ungeboren im Schoß meiner Mutter schwamm, oder noch Jahrmilliarden früher, als das Urlebewesen in dumpfer Urwonne durch die Ursuppe trieb. Alles ist eines, und ich bin dabei, ich gleite, gleite, gleite.

Allmählich meldet sich ein anderes Gefühl, bald ist es so stark, daß ich es erkenne Hunger. Von Lust und Luft allein kann ich nicht leben, also trudele ich nach oben und schwimme auf den Reisberg zu, der sich auf einer flachen Insel erhebt, süßer Reisauflauf mit verschiedenen Kompottmulden zur Auswahl. Satt, schwimme ich zur Ruheinsel hinüber und bette mich ins schattige Gras. Und es wird Abend, wieder ein Tag. Ich zähle die Tage nicht, kenne keine Zahlen, eines aber merke ich die Wonne wird schal. Ehrlich gesagt Das Schlaraffenland ist eine verteufelt langweilige Sache. Eva im Paradies, ich weiß jetzt du hattest nichts zu lachen.

Eines Tages ist Adam da. Meer, Reis und Wiese freuen mich wieder, schön ist das Leben, weil er es mit mir teilt. Und doch kommt die Stunde, wo ich in seinen Augen dasselbe Ungenügen lese. Ehrlich gesagt Auch zu zweit ist das Schlaraffenland ganz blöd langweilig. Gibts in unserem Paradies keine Schlange? Jung sind wir, gesund und satt, haben andauernd Ferien und auch sonst alles, wovon Milliarden Unglückliche in allen Jahrhunderten nur sehnsüchtig träumen konnten, aber glücklich - gib es zu, Adam - glücklich sind wir nicht. Irgendwie ist alles nicht genug. Obwohl wir außer dem Reisberg auch noch solche aus Grieß, Rührei und tausend anderen Leckereien futtern können; obwohl Wein-, Bier-, Kaffee- und Colaquellen munter sprudeln; obwohl Eisberglein in zehn Farben und dreißig Geschmäckern uns locken; obwohl Eva und Adam jeweils mehrfach vertreten sind und es an Möglichkeiten ihrer Neukombination keinesfalls mangelt; obwohl also das Schlaraffenland hier ebenso wirklich ist wie der solide Boden unter deinen Füßen, Jocki - trotz Eis und Kompott, trotz allem, also trotzdem überhaupt ist das ganze Schlaraffenland Sch...e. Allerhand Wohlgerüche umfächeln uns, die balsamischsten Düfte verheißen ein köstliches Glück - die Nase des Herzens aber riecht, daß es hier stinkt. Noch mehr stinkt als in jenem wundervollen Ferienhaus am Meer, wo an alles gedacht war, nur nicht an eine Kanalisation.

Ich fürchte, sagt Adam, über uns lacht nicht nur der ewig blaue Himmel, über uns lacht die ganze Welt. Wir haben ans Glück der Schlager und Prospekte geglaubt, und das ist anscheinend lächerlich. Warum aber? Wo steckt der Fehler? Was können wir uns denn mehr wünschen als alles? Das ist doch ein mathematischer Blödsinn; mehr als alles kann es nicht geben. Aber wir haben alles und sind nicht zufrieden. Wer bist du, Eva? Und wer bin ich? Sind wir Mißgeburten oder stimmt etwas nicht mit der ganzen Welt?

Während er redet, verfinstert sich der Himmel über unserer Insel, ein eisiger Windstoß verjagt alle Lauigkeit, schwer klatschen die ersten Tropfen auf uns herab. Im Meer haben sich Wellen aufgetürmt, sie jagen heran, schon überspülen sie den Strand. Die Wasser von oben und die Wasser von unten tun sich zusammen - und wir? "Hilf mir, Adam," schreie ich, doch er ist ebenso ohnmächtig wie ich. Eng umschlungen stehen wir da, schon tost das Wasser uns um die Knie, schwarz ist alles ringsum geworden, und ich weiß: das ist das Ende. Alles wird wieder eins, aber wir sind nicht mehr dabei. "Danke, Eva," kann er noch sagen, "es war schön mit dir, trotz allem!" Dann reißt der Schwall uns weg, auseinander. Brodelnde Finsternis zerrt an mir, ich kann nicht mehr atmen...

"Ich gebe ja zu, Jocki, daß auch diese Geschichte noch nicht zur Lösung gehört. Oder doch nur zu ihrem ersten Anfang. So wie du bei einer Matheprobe ja auch erst die Aufgabe verstehen mußt, wenn dir das zu schwer ist, bleibst du schon am Anfang stecken. Mein Vater meint, für die Lösung selber ist es noch zu früh." "Schon gut, Friedrich, ich fürchte bloß, mein Problem liegt noch weiter vorn. Ich kapiere nicht einmal den Text der Aufgabe. Wollten wir nicht herausbringen, ob es Gott gibt oder nicht? In dem Schlaraffenland da ist das aber anscheinend überhaupt keine Frage. Ein Herr kommt nicht vor und wird auch nicht vermißt." "Bist du sicher? Warum waren die beiden wohl so unzufrieden, obwohl sie doch im Glück bloß so geschwommen sind?" "Keine Ahnung. Ich wäre da anders. Ich könnte ein solches Leben ziemlich lang aushalten. Übrigens, von wem stammt das Band? Und wieso konnte diese Eva mich anreden? Sie kennt mich doch gar nicht!" "Sie kennt dich nicht, aber sie weiß, daß du deinen Namen kennst. Sie mußte also bloß denken: Hier ist der Name des jeweiligen Nach-Denkers einzusetzen. Diesen Auftrag hat dein Gehirn erkannt und ausgeführt. Das klingt sehr persönlich und geht doch automatisch. Weißt du, bei manchem Lehrer hab ich auch so ein Gefühl. Er sagt "Friedrich" und meint gar nicht mich, bloß den Schüler X, dieses notwendige Übel, das laut Klassenliste halt Friedrich heißt."

"Ich weiß. Solche Typen hätten nicht Lehrer werden sollen, besser Programmierer. Aber sag mir, wer ist diese Eva, die das Band bedacht hat?" "Eine Bekannte von uns. Sie hatte keinen Vater, und ihre Mutter hat sie schrecklich verwöhnt. Jeder Wunsch wurde ihr sofort erfüllt, naschen und schlecken hat sie dürfen, soviel sie wollte. Erst Schokolade und Keks, später Schnaps und Playboys. Das Band stammt aus ihrer Entziehungskur. Es geht noch weiter. Schalt ich wieder ein?" - "Ja, los!"

Spring, ruft Er. Du mußt nicht, sagt Sie, wir mögen dich auch so. Ich mag dich aber lieber, wenn du dich traust. Nachdrücklich klingt Seine Stimme, aufmunternd nickt Er mir zu. Soll ich springen? Keine Frage, ich soll. Denn Er will es. Will ich auch? Ratsuchend blicke ich auf Sie, doch da ist keine Hilfe. Ihr Lächeln ist strahlend und voll, wie immer. Ich liebe dich, versichert es mir, tu was du willst, du bleibst immer mein Kind, nichts kann dich von mir reißen. Das zu wissen tut gut, o wie gut, aber Ihre Antwort ist zu groß für meine kleine Frage. So erhellt der Vollmond die Schneenacht - aber eine Kerze entzünden, mit der man unter den Schrank leuchten könnte, das kann er nicht.

Jetzt spring doch endlich! Schärfer klingt Seine Stimme, liegt Ungeduld darin? - Fängst du mich auch bestimmt auf? - Aber klar. Hab keine Angst. Du mußt nur weit genug springen, bis in meine Arme. Also los! - Ja, ich will. Ich weiß nicht, wie es gekommen ist. Eben noch habe ich gezaudert, jetzt will ich. Ich gehe auf dem Sprungbrett zurück, laufe an und springe, so weit ich kann, fliege Ihm in die Arme. Und vor lauter Stolz tu ich einen lauten Schrei. Wunderbar! jauchzt Sie, doch ihr Lob bedeutet mir heute nichts; denn sie hätte mich auf jeden Fall gelobt, auch wenn ich feig gewesen und die Leiter wieder hinunter geklettert wäre, wie gestern. Da bin ich Seinem Blick ausgewichen, habe mich in Ihrer Umarmung versteckt. Daß aber jetzt Er "gut, meine Kleine!" sagt und mich streichelt, das macht mich glücklich, so anders glücklich, wie das das schönste Eis aus Ihrer Hand mich noch nie gemacht hat.

Hoffentlich bleiben Sie zusammen und lassen sich nicht scheiden. Ich brauche ja beide. Ich wünsche, daß Er etwas von mir verlangt, immer mehr, immer Schwierigeres, damit ich wachse und etwas lerne. Und ich sehne mich nach Ihrer Güte, die nichts von mir verlangt, an die ich mich kuscheln kann, bei der ich immer gut aufgehoben bin.

Natürlich weiß ich, daß jeder vom andern lernen könnte. Hätte ich nur Ihn, dann würde Er mir bestimmt auch Ihre unbedingte Liebe erweisen. Und bliebe mir bloß Sie, dann müßte Sie Ihrem Herzen Gewalt antun und mir irgendwann die Zähne anders zeigen als immer nur lächelnd.

Woanders ist es ja sogar umgekehrt. Wenn ich an meine Freundin Margit denke! Da ist der Vater meistens lieb und geduldig, die Mutter aber schreit herum, ist hinter den Hausaufgaben her und läßt die arme Tocher nicht zur Ruhe kommen, solange noch das winzigste Staubkorn auf den Küchenfliesen liegt.

Staub, das ist das Wort. Aus Staub sind wir, zu Staub werden wir wieder. Staub & Co, Grundstoffe, mahnt in Nürnberg ein großes Firmenschild. Wer Staub mit normalen Augen anschaut, sieht nichts als eben bloß Staub. Leg aber ein solches Staubkorn unters Mikroskop, und ganze Welten kannst du entdecken. Mein Gefühl für Mutter und Vater ist mir so ein Mikroskop. Ich schaue auf Sie - und erblicke die wahre SIE, die Göttin. Ich blicke auf Ihn, und wer zeigt sich mir? Der wahre Herr, der Gott. Für Margit erscheint ER mehr in Ihr und SIE in Ihm, das ist auch in Ordnung, weil Gott und Göttin überall zusammengehören, in sich und auch in uns. Jedes Staubkorn hat sozusagen beide Seiten. Am schönsten zeigt das Hohe Paar sich aber in einem Menschenpaar, wo Sie mütterlich und Er väterlich ist, oder anders herum, wo ER aus dem Vater leuchtet und aus der Mutter SIE. Ob ich mal eine solche Mutter werden kann?

"Siehst du, Jocki, jetzt begreifst du alle drei Farben unseres Hauses. Gelb bedeutet, daß Gott unseren Gehorsam verlangt, also die Wahrheit der Religion. Rot bedeutet die Wahrheit der Humanisten: daß wir Menschen selbständig sind, weil kein riesiger Jemand uns launisch herumkommandiert. Und blau bedeutet die Wahrheit der Göttin: Sie ist anders als Gott, weil Sie von mir nichts verlangt, sondern mich unendlich liebt; in Ihr bin ich aber auch nicht auf mich selbstgestellt, sondern unendlich gut im Ganzen aufgehoben. Verstehst du?" - "Verstehen ist zu viel gesagt, so weit bin ich noch nicht. Bloß zu ahnen fange ich an, wie das vielleicht doch alles zusammenpaßt." "Es ist gar nicht so schwer. Auf dreierlei Weisen kann ein Mensch das Geheimnis des Ganzen fühlen. Entweder als unendliches DU; so fühlen die Frommen und beten zu Gott. Oder als unendliches EINS; so fühlen die Schwärmer und schwingen im Leben des Alls. Oder als ICH; so fühlt sich der Selbstbewußte und ist stolz, daß alles um ihn kreist." "Die können aber doch nicht alle recht haben! Jeder Standpunkt widerspricht den beiden anderen." "Und wer sagt dir, daß du einen Standpunkt haben sollst? Er hatte einen Horizont mit dem Radius Null, und den nannte er seinen Standpunkt - so wollen wir doch nicht sein. Bist du ein Christ?" "Schwer zu sagen. Ich glaube schon, daß ich einer sein will." "Gut, dann bist du einer. Dann brauchst du dich aber nicht zu wundern, daß es drei grundverschiedene Sinnwahrheiten gibt. Denn Gott ist die Wahrheit, Gott ist dreieinig, also ist die Wahrheit dreimal ganz anders." "Das klingt ja immer toller. Demnach wäre euer dreifarbiges Haus das einzige normale in der ganzen Stadt?" "So ungefähr," lacht Friedrich . "Normal kommt ja von Norm, und die Norm verlangt, daß die eine Wahrheit sich nicht zur Norm der Gegenwahrheiten macht. Aber normal ist selten, oder kennst du jemanden, der ganz normal ist? Aber normaler werden, das können wir schon. Kommst du am nächsten Mittwoch wieder? Da kannst du erleben, wie zwei Leute sich wild streiten, damit sie merken, wie dumm ihr Streit ist." "Damit? Unsinn; höchstens bis." "Nein, damit. Aber mehr wird nicht verraten. Du wirst staunen."


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