Jürgen Kuhlmann

MULTIFORMIS SAPIENTIA I

Antrittsenzyklika des Papstes Johannes XXIV.

Prolog im Himmel
Papa, mein weißes Schiff ist kaputt. Ich kann lenken wie ich will, es fährt immer einen engen Kreis. - Das werden wir gleich haben. Da schau, das Steuer klemmt. Etwas Öl darauf, und ein paarmal hin und her. Siehst du? Jetzt folgt es dir wieder.

Ehrwürdige Mitbischöfe liebe Schwestern und Brüder in aller Welt,
GOTTES VIELBUNTE WEISHEIT hat uns, ihren schwachen Diener, mit dem schwersten Amt der Christenheit beladen. Uns - ihr wundert euch vielleicht, daß der neue Nachfolger des Petrus an dem so viel kritisierten Brauch des päpstlichen Plural festhält. Ist er denn nicht ein Mensch wie alle anderen? Ja, und eben darum nennt er sich wir: nur in der Hoffnung sind wir einer, im Erleben aber viele verschiedene Menschen - wie jeder von euch es bei sich erlebt. Wir grüßen euch alle und wünschen euch von Herzen Heil und Lebensmut. Dazu nach Kräften beizutragen ist unsere Aufgabe hier im Zentrum der katholischen Kirche.

Was ist die katholische Kirche? Darüber haben wir lange Jahrzehnte nachgedacht, vor dem Angesicht Gottes und im Gespräch mit vielen Menschen. Wir sind zu einer bestimmten Überzeugung gekommen, haben sie aber bisher nie öffentlich vertreten. Heute können wir nicht mehr schweigen.

Unsere Kirche ist zweierlei: römisch und katholisch. Ihr kennt unsere gelb-weiße Kirchenfahne. Niemand soll sie zerreißen; doch ebenso wenig darf die eine Farbe die Reinheit der anderen trüben. Das Gelb soll kräftig gelb strahlen und das Weiß leuchtend weiß. Viele unserer Vorgänger trugen wie wir den weißen Talar - weiß die Welt auch, warum?

Gottes im Epheserbrief gepriesene vielbunte Weisheit enthält, obwohl in sich selbst ganz einfach, doch die gegensätzlichsten Farben, ähnlich wie das weiße Licht unserer Sonne. Nebeneinander im Farbkasten oder aufs Papier gemalt, sind die Farben verschieden, ja zuweilen unverträglich. Ineinander im Sonnenlicht, sind sie eins.

So ist es auch mit den in Gottes Weisheit versammelten Wahrheiten unserer Welt. So wie wir Menschen sie verstehen, streiten sie oft miteinander, schließen sich sogar gegenseitig aus. In ihrem Ursprung hingegen sind sie eins.

In einem guten Farbkasten findet sich neben den anderen Farben auch eine Tube Weiß. Ist Weiß überhaupt eine Farbe? Anscheinend nicht; denn es enthält alle Farben, ist also zu keiner ein Gegensatz. Und doch: auf jedem Bild lassen die weißen Stellen sich von anders gefärbten unterscheiden. Wir können also sagen: als Licht ist Weiß von Grün oder Rot so unterschieden wie das einfache Ganze von einem Teil; als Fläche hingegen ist Weiß eine Farbe wie die anderen und hat keinerlei Vorrang vor ihnen. Wer nie ein Rot gesehen hätte, könnte lange ein Weiß betrachten, nie käme er auf den Gedanken: darin steckt auch Rot, und so bei allen Farben. Nur wer sie schon kennt, kann sich vom Weiß an ihre geheimnisvolle Einheit erinnern lassen; wem bloß Weiß vertraut wäre, hätte dadurch nicht alle Farben, sondern keine - außer Weiß, das insofern eine Farbe neben den anderen ist.

Was wollen wir mit diesem Gleichnis sagen? Etwas leicht Verständliches: Unsere römisch-katholische Kirche ist eine doppelte Idee der göttlichen Weisheit. Sie ist zum einen eine bestimmte Kirche neben anderen Kirchen und Gemeinschaften. Insofern sind ihr im Laufe ihrer Geschichte manche Lebens- und Denkwahrheiten deutlich aufgegangen. Wir erinnern an die typisch katholischen Dogmen: etwa die Transsubstantiation oder die unbefleckte Empfängnis Mariens. Andere Wahrheiten haben hingegen außerhalb des römischen Pferches besser gedeihen können als innerhalb. Das liegt an der unentrinnbaren Enge der Geschöpfe: was gelb ist, kann nicht zugleich rot oder blau sein. Die römische Kirche als Glaubensgemeinschaft mit unverwechselbar besonderem Charakter sehen wir im gelben Teil der Kirchenfahne dargestellt.

Daneben ist die katholische Kirche aber auch noch etwas anderes. Was heißt kat-holisch? Es heißt allumfassend, das Ganze betreffend. Unsere Kirche ist auf der göttlichen Palette nicht nur ein bestimmtes Gelb, sondern auch das Weiß. Natürlich nicht das stolze, erhabene Weiß, welches alle anderen Farben in sich schließt - gegen diesen hochmütigen Anspruch würden alle übrigen Glaubensgemeinschaften mit Recht protestieren. Weiß in diesem Sinn ist allein das Reich Gottes selber. Zwar ist es schon in unserer Mitte und blitzt zuweilen auf, dadurch erhellt es aber alle Farben oder welche es eben will, durchaus nicht nur die weiße. Nicht also das Weiß der Sonne ist die kat-holische Kirche, wohl aber das demütige Weiß erst auf der Palette und dann im Bild, das der Maler hie und da neben die übrigen Farben setzt, um den wissenden Betrachter daran zu erinnern, daß alle Farben, trotz ihrer offenkundigen Gegensätze, dennoch auch geheimnisvoll eins sind.

Wie ihr wißt, spricht man seit einiger Zeit von der "dritten Konfession" und meint damit jene vielen Menschen, die sich in den abgeschlossenen Konfessionen weniger daheim fühlen als in der neugelebten Einheit mit Menschen anderer Bekenntnisse. Meine lieben Brüder und Schwestern: hört nicht auf die ängstlichen Warnungen derer, die gegen die dritte Konfession eifern. Christus ist unser Friede. Meint aber auch nicht, ihr müsset sie erst gründen. Sie ist so entscheidend wichtig, daß nur Jesus Christus selbst sie hat gründen können. Waren nicht die allerersten Christen schon das dritte Volk zwischen Heiden und Juden, zwischen Atheisten und Frommen? Ja, die dritte Konfession gibt es längst, wenn auch die meisten ihrer Mitglieder und Amtsträger es noch nicht wissen.

Die römisch-katholische Kirche ist eine Zwillingswirklichkeit; während aber den ersten, römischen Zwilling seine Mutter, die Heilsgeschichte, bereits geboren und mit vielem bedacht hat, blieb der zweite, kat-holische, noch schlafend in ihrem Schoß verborgen. "Genug und übergenug haben wir geschlafen!" Mit diesem Bekenntnis aus der Eröffnungspredigt des Konzils von Trient rufen wir auch heute alle Christen auf, mit uns zusammen im Heiligen Geist zu überlegen, was Gott von uns will.

"Weide meine Schafe", hört Petrus im Evangelium aus dem Mund des auferstandenen Herrn. Dieser Befehl ist so an niemand anderen ergangen. Er betrifft offenbar die ganze Kirche. Er macht aber Petrus keineswegs zum Herrn der anderen Apostel und ihrer Gemeinden; denn auch sie sind unmittelbar von Christus selbst berufen. Vor aller Welt erklären wir feierlich: wir fassen unser Amt nicht so auf, wie jahrhundertelange römische Überlieferungen es uns nahelegen könnten. Wir enthalten uns jedes Urteils über unsere Vorgänger und ihre Berater; Gott ist ihr Richter. Wer zwei disparate Aufträge durch die Zeiten hin zu bewahren hat, ohne zu wissen, daß sie verschieden sind, kann leicht sich und andere verwirren.

Wir haben jedenfalls erkannt, daß das Papstamt eine Personalunion zweier grundverschiedener Ämter darstellt: einerseits sehen wir uns als den Hüter des Glaubens der römischen Kirche. Zum andern fühlen wir uns für die Einheit aller Jünger Jesu verantwortlich.

In der ersten Funktion bleiben wir, was unsere Vorgänger gewesen sind: Patriarch mit Jurisdiktionsprimat und unfehlbarer Lehrautorität. Alle Katholiken wissen oder sollten es doch wissen, daß in praktischen Fragen nicht unser erstes, sondern erst unser letztes Wort bindet und daß bei dogmatischen Problemen nur ganz bestimmte, höchst feierliche Definitionen unfehlbar sind. Die römische Kirche ist nicht die einzige Blume im christlichen Garten; wer sich aber zu ihr bekennt, darf wissen, daß er keinem Nebelgebilde, vielmehr einer klar konturierten Schöpfung der göttlichen Phantasie angehört.

Liebe Schwestern und Brüder: wir täuschen uns nicht darüber, daß viele von euch, die sich katholisch nennen und es auch sein möchten, diesen ausgestalteten Glauben der römischen Kirche nicht in allen Stücken teilen können. Die meisten der alten Worte sagen ihnen wenig, das reich differenzierte Lehrgebäude ist ihnen keine Heimat. Weitaus wohler fühlen sie sich in irgendeinem schnell improvisierten Zelt, wo sie mit Andersgläubigen zusammen von Jesu befreiendem Geist belebt werden. Trotzdem sind sie, ohne sagen zu können warum, von der Weltkirche angetan, möchten nicht in abseitigen Sekten sondern in der einen Kirche Jesu Christi zu Hause sein.

Seltsamer Zwiespalt! Einerseits fühlen sie, wie sehr der Modernist recht hatte als er spottete: Jesus verkündete das Reich Gottes, und gekommen ist - die Kirche. [Anmerkung 2001: Hier irrt der Papst. Nicht spotten wollte Loisy, vielmehr die geschichtliche Kirche bejahen.] Dieser Apparat, dieses bedrückende System, das kann doch nicht nach dem Willen des Mannes aus Nazaret sein, der den Menschen über den Sabbat und den Tempel unter Gottes Gericht stellte. Andererseits wissen sie doch, daß ohne den Krug der Kirche der Wein des Evangeliums sich nicht bis in unsere Zeiten gerettet hätte - und daß Jesus Realist genug gewesen sein dürfte, dieses grimmige Gesetz aller Geschichte zu kennen und zu beachten. Denn rechnete er auch noch so sehr mit dem Ende der Tage, so wußte er doch, daß er es nicht sicher wußte.

Fürchtet euch nicht, die ihr euch für teilidentifiziert haltet. Nicht nur versteht euch der Papst, der Papst ist der Eure. Denn wir sind nicht nur das Haupt der römischen Kirche, sondern auch verantwortlich für die kat-holische. Insofern kennen wir die Zweideutigkeit aller irdischen Worte, auch jener, aus denen das Dogmengebäude der römischen Kirche errichtet ist. Wir erwarten als Bischof von Rom, daß unsere Gläubigen sich an diese heilsamen Denkregeln halten; als Nachfolger des Petrus erkennen wir an, daß die Einheit der Christen alle Sprachbarrieren übersteigt. Ohne es zu. wissen, seid ihr Glieder nicht des einen, sondern des anderen Zwillings. Kat-holische Gläubige aller Überzeugungen, wir bitten euch: erkennt eure Würde und helft mit, daß die von Christus gewollte allgemeine Kirche, welche die Einheit der Seinen vor der Welt darstellt, sich aus einer verborgenen in eine öffentlich sichtbare Wirklichkeit verwandle. In dieser Kirche, der unser Herz nicht weniger gehört als der römischen, beanspruchen wir selbstverständlich keinen hierarchischen Vorrang. Erster unter Gleichen kann der Papst hier höchstens durch seinen größeren Eifer sein, die gemeinsame. Verantwortung für die Einheit wahrzunehmen.

Alle Christen im weitesten Sinn, alle Menschen also, die von Jesus überzeugt sind und hoffen, daß der Tod ihn nicht widerlegt hat, gehören gleichberechtigt zu dieser kat-holischen Kirche, unter einer Bedingung. Diese Einschränkung ist notwendig; denn diese Kirche darf nicht eine alles nivellierend verschlingende Superkirche sein. Bisher hat der ökumenische Weltrat sich vor dieser Versuchung gehütet; auch die von uns im Heiligen Geist erträumte kat-holische Kirche darf ihr nicht verfallen. Nicht alle Christen gehören zu ihr, sondern nur solche, für die das Einssein im Bekenntnis zu Jesus schwerer wiegt als diese oder jene einer bestimmten Konfession geschenkte Sonderwahrheit. Erinnert euch wieder an das Farbengleichnis: das malbare Weiß ist nie die Superfarbe der Sonne, sondern stets nur eine demütige Farbe neben anderen. Als Glied der römischen Kirche glauben wir z.B. an die leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel und fühlen uns brüderlich eins mit all den Gläubigen, die dieses Dogma für so bedeutsam halten, daß ihnen nichts liegt an einer Kirche, die von ihm absieht. Als erwählter Papst der römisch-katholischen Kirche wünschen wir somit, daß die römische und die katholische Kirche sich hinfort voneinander unterscheiden, jedoch bruchlos und im ökumenischen Frieden miteinander leben. Jeder römisch-katholische Christ möge sich frei entscheiden, ob er der römischen oder der kat-holischen oder beiden Kirchen angehören will; der Papst hofft zuversichtlich, daß wie von ihm so auch von Jesus Christus dem Lebendigen alle drei Entscheidungen gleichermaßen gut geheißen werden. Denn zwischen göttlichen Wahrheiten gibt es keine Konkurrenz, wohl freilich müssen wir Menschen wählen, welcher von ihnen wir Zeit, Energie und sozusagen unseren geistlichen Patriotismus weihen.

Gegen ein lauerndes Mißverständnis wollen wir uns noch absichern. Wir sagten oben, diese kat-holische Kirche gebe es schon, da nur Christus selbst sie habe gründen können. Folgt daraus, daß die Katholiken. ein Plus haben, weil sie dieser Kirche schon angehören, während die anderen sozusagen erst zu ihr zurückkehren müßten? So zu denken wäre ein törichter Trugschluß. Jeder Getaufte ist immer schon nicht nur in seine Ortsgemeinde bzw. bestimmte Konfession hineingetauft worden, sondern dadurch zugleich auch in die allgemeine Kirche Christi: jede Farbe ist hell nur dank des einen weißen Lichtes. Was die Tiefenwirklichkeit betrifft, war also jeder Christ im Maße seines gelebten Glaubens immer schon kat-holisch - wie auch evangelisch und orthodox. Was aber die äußere Mitgliedschaft bei der konfessionell unterschiedenen kat-holischen Kirche angeht, so muß jeder, auch der sogenannte Katholik, sich in Zukunft ausdrücklich zu ihr entscheiden.

Was wird Sinn und Aufgabe dieser zugleich alten und neuen Kirche sein? Zweierlei. Die tiefer und höher als ihre Differenzen reichende Einheit aller Jünger Jesu zu bezeugen und geistlicher Hauptwohnsitz der vielen Christen zu sein, für welche die gewachsenen Formen der anderen Konfessionen nur mehr tote Buchstabenhülsen sind. Auch psychologische Tatsachen sind ja Tatsachen, und die genannte ist sicher ein wichtiges Zeichen unserer Zeit, das wir nicht, aus falscher Treue zur Tradition, verachten und übersehen dürfen. Gewiß verdient jede christliche Tradition Treue, nicht als äußere aber sondern als Gabe von innen. Wem sie geschenkt ist, danke Gott, diene ihm weiter in seiner Konfession und werbe Jünger, so viele und gute er kann. Er sperre aber nicht die vielen aus Jesu Gemeinde aus, die heute geistlich so arm sind wie seine bevorzugten Freunde damals.

Um die vielfältigen neuen Probleme, welche unser Entschluß hervorbringt, sorgfältig lösen zu können, laden wir alle Bischöfe der römischen Kirche zu einer Bischofssynode ein und bitten zugleich alle Christen, die sich im neu geklärten Sinn des Wortes für kat-holisch halten, ein ökumenisches Konzil vorzubereiten. Ohne den Ergebnissen dieser Zusammenkünfte vorgreifen zu wollen, heben wir mit sofortiger Wirkung das Verbot der Interkommunion auf. Welchen römischen Katholiken ihr Gewissen die Mitfeier des heiligen Abendmahls mit anderen Christen gestattet, denen ist es auch vom Papst aus erlaubt. Denn wo die Einheit besteht, da ist das Zeichen der Einheit keine Lüge. Und wie könnte man zweifeln, daß die Einheit der Seinen der mitbringt, der in ihrer Mitte sein will, wo zwei oder drei in seinem Namen sich versammeln?

Zum Schluß wenden wir uns an diejenigen, die sich nur von außen für die Kirche interessieren. Und vielleicht traurig oder sogar zornig darüber sind, daß wir nicht auf die furchtbaren Probleme unseres Planeten in dieser kritischen Zeit zu sprechen kommen. Wir fragen euch aber: wann haben Politiker sich jemals durch inständige Papstworte davon abhalten lassen, egoistisch und kurzsichtig zu sein? Wir sind der Überzeugung: wenn wir Christen es lernen, unser eigenes Haus menschenfreundlicher einzurichten, so daß die vielen Wohnungen darin weder isoliert noch zugig sind, dann beenden wir viele unnötige Kämpfe, setzen dadurch große Energien frei und helfen so unserer gemeinsamen Erde besser als durch noch so feierliche Sätze zum Fenster hinaus.

Es segne euch alle der eine Gott, dessen Werke bunt und dessen Liebeserweise unsystematisierbar sind, der Vater und der Sohn und ihre heilige Harmonie.

Gegeben zu Rom am Sonntag Gaudete des Jahres ****

JOHANNES PP XXIV


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samt Geschichte dieses Begriffs und lustigem Stereo-Portrait

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