Jürgen Kuhlmann

Ist die Kantorei
eine christliche Gemeinde?

"Quaestio disputata" im Stil des XIII. Jahrhunderts

A) Scheinbar nein; denn

1) ist die Kantorei ein Unterorgan der evangelischen Ortskirche von Mögeldorf, in deren organisatorische Struktur eingebunden, von dort wird sie finanziert, deren Gottesdienste verschönt sie, also ist sie nicht selbst eine Gemeinde, sondern nur das unselbständige Organ einer solchen.

2) Zu einer Gemeinde gehören Gottesdienst, Predigt, Sakrament; all dies wird in der Kantorei als solcher nicht vollzogen; somit ist die Kantorei keine christliche Gemeinde.

3) Eine christliche Gemeinde setzt sich aus überzeugten Christen zusammen; in der Kantorei singen aber auch Menschen mit, die an Christi Auferstehung und andere Dogmen nicht felsenfest glauben. Sogar einen hier studierenden Buddhisten schlössen wir nicht aus; folglich ist die Kantorei keine christliche Gemeinde.

4) Jede Gemeinde bedarf eines ordinierten Leiters, einen solchen haben wir aber nicht, mithin ist die Kantorei keine christliche Gemeinde.

5) Eine echte Gemeinde ist "ein Herz und eine Seele" (Apg 4,32), das trifft bei der Kantorei nicht zu, demnach ist die Kantorei keine christliche Gemeinde.

6) Die Zugehörigkeit zu einer Gemeinde wird als heilsbedeutsam erlebt, Chorsingen aber ist eine unverbindliche Freizeitbeschäftigung; deshalb ist die Kantorei keine christliche Gemeinde.

B) Dagegen steht jedoch:

"Keiner kann sagen, Jesus ist der Herr, wenn nicht im Heiligen Geist" (1 Kor 12,3). Dies aber singt der Chor, was ein besonders intensives Sagen ist. Eine im Heiligen Geist versammelte Gemeinschaft ist aber eine christliche Gemeinde. Also ist die Kantorei eine solche.

C) Ich antworte:

Es gilt einzusehen, daß Wörter wie Kirche und Gemeinde einen in sich vielfach gestuften Begriff ausdrücken. Jede sichtbare Gemeinde ist ein gottgewolltes Zeichen, deshalb ist auch bei ihr Sein und Sinn zu unterscheiden (der Sinn des Herdschalters sind 200 Grad, das Sein ist kühl; der Sinn des Tourenzählers 3000 Umdrehungen, das Sein ruht; der Sinn von "alle Buchstaben" umfaßt auch x und y, das Sein schließt sie aus). Der Sinn der Kirche ist: "Heil für alle Menschen", einer Gemeinde Sein umfaßt jedoch nie alle Menschen, verdankt sich vielmehr stets einer bestimmten Erwählung, Aussonderung, dem "Heraus-Ruf" (Wortsinn von "ek-klesia"=Kirche) Gottes. Dieser vollzieht sich sozusagen in verschiedenen Sprachen (auf deutsch gehören z.B. u und c zum Zeichen "alle Buchstaben", d und l nicht, auf spanisch - "todas las letras" ist es umgekehrt). Eine Menge solcher Sprachen hat sich innerhalb der christlichen Ökumene entwickelt, jede schließt andere Menschen und Glaubensformen ein oder aus. Ein Ashram, in dem Hindus und Christen zusammenleben, das Ratzinger-Sekretariat und der Heroldsberger Kirchenvorstand sind überaus verschiedene Weisen von Kirche. Wichtig ist Jesu allzu unbekantes Prinzip: "Wer nicht gegen euch ist, der ist für euch" (Lk 9,50).

Jene Sprache, in der Gott eine Kantorei aus der Menge der Menschen "herausruft" und so zur Kirche macht, ist die geistliche Musik. Sie entschleiert ein besonderes, auf andere Weise nicht zugängliches Antlitz des Ewigen SINNes: Das Heil, wie es in der Bibel berichtet und von begnadeten Musikern in Töne gesetzt worden ist, führt bei Sängern und Hörern immer wieder zur aktuellen Selbst-Offenbarung. Die Harmonie der Töne, der Wechsel von Dis- und Konsonanz und vieles mehr ist eine unersetzbare Weise, das mit den schwachen Wörtern "Heil für alle" tief Gemeinte dem angstvoll-vertrauenden Herzen neu vernehmbar und glaubhaft zu machen - durchaus unabhängig davon, welche weltanschauliche Ideologie seinen Verstand prägt (ob also etwa das Wort "Gott" ihm gesunderweise die LIEBE bedeutet oder - wegen einer ekklesiogenen Neurose - jenen seelenvergiftenden Vampir, der geleugnet werden muß).

D) Daraus ergibt sich die Lösung der Einwände:

1) Nur organisatorisch ist die Kantorei ein Teil der evangelischen Ortskirche. Auf ihr Sein gesehen ist sie eine eigenständige Gemeinde; denn viele ihrer Glieder gehören nicht zu jener. Anders, als Bürokraten zu denken versucht sind, bezeichnet der apparatliche Aspekt keineswegs die Substanz einer gesellschaftlichen Realität, sondern nur eines ihrer Akzidentien: die Kirche ist keine Institution, sondern hat eine solche.

2) Unsere Proben und Aufführungen sind (in der musikalischen Dimension) Gottesdienst, Predigt und auch eine Art Sakrament (mit der Musik als Materie). In der Zählung der Sakramente gehen die Kirchen auseinander; Jak 5,14 hat in der katholischen Kirche zum Sakrament der Krankensalbung geführt. Daß der Satz davor (oder Eph 5,19; Kol 3,16) es nicht zu solch systematischer Würde brachte, macht unsere Erfahrung nicht ungültig, daß Singen das Heil zugleich bedeutet und bewirkt.

3) Das Wort "Christen" wurde den Gläubigen von außen aufgepappt (Apg 11,26), es ist ebenso vieldeutig wie das Wort "Kirche". Jener Samariter, den Jesus als Vorbild hinstellt, entspräche heute einem gottlosen Asylanten ... Richtet nicht! Glaubenszweifel gibt es auch in der Kerngemeinde sowie auf theologischen Lehrstühlen.

4) Unser Leiter ist für seine besondere Weise der Heilsvermittlung sowohl charismatisch als auch institutionell legitimiert. Vollkommen aber ist, vom Papst bis zum Dorfvikar, niemand.

5) Jener Satz hat schon in der Urkirche nur als utopisches, stets neu anzustrebendes Ziel gestimmt. So auch bei uns.

6) Unser Singen ist nicht unverbindlich, vielmehr wird Schwänzen, Schwatzen und Nuscheln streng sanktioniert. Freizeitbeschäftigung im arbeitsrechtlichen Sinn ist auch die Laienpredigt und die Gestaltung des Kindergottesdienstes. Auch ehrenamtliches Tun hat aber an der Verbindlichkeit des Amtes teil.

13. Februar 1990


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