Jürgen Kuhlmann

Karin und die Äpfel

Über die Pflicht zur Freiheit

A

"Was ist ein Gewissenskonflikt?" Diese Frage der Religionsschulaufgabe beantwortete Karin wie folgt:

Es sind zwei Freundinnen. Die eine sagt: "Komm, wir holen uns die Äpfel aus diesem Garten." Die andere meint, es sei nicht richtig, die Äpfel zu stehlen. Darauf sagt die erste: "Wir heben doch nur die auf, welche am Boden liegen, wir stehlen doch keine vom Baum." Die andere weiß nun nicht, was sie machen soll. Das ist ein Gewissenkonflikt.

Der Lehrer ist zunächst verblüfft. So hatte er es nicht gemeint. Er hatte an die schwere Situation gedacht, wo scheinbar Pflicht gegen Pflicht steht, wenn also etwa im Dritten Reich jemand einen Juden versteckt hält und dann entweder die Häscher anlügen oder seinen Schützling verraten muß. So tragisch geht es in Karins Falloffenbar nicht zu. Hier steht nur auf der einen Seite eine Pflicht: Du sollst nicht stehlen. Auf der anderen Seite locken die Äpfel: nicht Pflicht gegen Pflicht, sondern Lust gegen Pflicht. Verdient eine solche Lage den gewichtigen Namen "Gewissenskonflikt"?

Und doch hast du recht, Karin, viel mehr als du es weißt. Du bist ein Großstadtkind, hast sicher niemals Äpfel gestohlen - wie kommt es, daß du gerade zu diesem Gleichnis greifst? Hast du vielleicht unbewußt an einen anderen Garten gedacht mit einem Baum, "lieblich anzusehen"?

Jedenfalls trägt das Mädchen, dessen Konflikt du beschreibst, deutlich die Züge der heutigen Kirche. Eifrig drängt ihre liebe Freundin, die Welt: holen wir uns die Äpfel. Was schert uns der unsichtbare Besitzer - falls es überhaupt einen gibt! Wir stehlen ja nichts vom Baum, wir nehmen uns nur das, was sonst wahrscheinlich verderben müßte. Wozu weiter irgendwelche Rechte respektieren, von denen vielleicht niemand etwas hat? Wer zwingt uns, an Tabus festzuhalten, die keines Menschen Leben bereichern? Komm, Kirche, mach doch mit! Schau, da liegen die Äpfel: noch sind sie schön, wer weiß, wie lange sie sich halten? Darf man denn dumm sein? Ist das nicht auch eine Sünde, Freuden umkommen zu lassen, die doch für uns bestimmt sind? Machst du es dir nicht ein bißchen leicht mit deiner unbekümmerten Bravheit?

"Die andere weiß nun nicht, was sie machen soll. Das ist ein Gewissenskonflikt." Ja, Karin, das ist wirklich einer. Nach welchen Gesichts punkten ist er zu lösen?

B

I Die Pflicht zur Freiheit

Der Moraltheologe Marc Oraison beklagt einmal, daß nach 2000 Jahren Christentum immer noch das Gesetz als erhabenes Absolutes dasteht und Gott als sein Polizist, der alles sieht: "Die Moral solcherart zu formulieren läuft darauf hinaus, die affektive Reaktion eines zwei- oder dreijährigen Kindes als menschliches Ideal hinzustellen" (Une morale pour notre temps, Paris 1964, S. 66).

Ein Vater, der seinen Sohn liebt, züchtigt ihn nicht nur, sondern erzieht ihn auch zur Freiheit. Das bedeutet: er erwartet von ihm, daß er mehr und mehr, in immer weiteren Bereichen und wichtigeren Fragen sein Leben selbst in die Hand nehme. Am Ende kommt es so weit, daß der Vater seinem Sohn die Freiheit geradezu abverlangt: fragt dieser etwa, ob er denn nun Heidi oder Rosa heiraten solle, dann wird ein kluger Vater die Antwort verweigern und dadurch dem Sohn die Freiheit zur Pflicht machen.

Seit Jesus "Gott", das Geheimnis in und hinter allem, mit dem Namen "Vater" anrief, seither gilt für jeden, der an Jesu Geist Anteil hat, das Gesetz dieses inneren Zuges hin zur Freiheit. Gewiß ist die Unterscheidung der Geister nicht leicht. Auch unter sogenannten Christen gibt es natürlich ein pubertäres, immer noch unreifes Freiheitspathos, weg von jeder Verantwortung vor dem Vater. Das besagt aber nichts gegen die echte Freiheitsleidenschaft des mündigen Christen, der gerade in dieser Verantwortung weiß, daß Gott ihm weder irrational lastendes Normgefüge (= Tabu) noch dessen bürokratischer Hüter sein will, sondern eben "Vater", wahrhaft großzügiger Herr und Freund, der seinem Geschöpf einen weiten Spiel-Raum anweist mit der Auflage, ihn phantasie- und liebevoll zu verwenden, damit - soweit es an ihm liegt - wahr werde, was die erste Seite der Bibel sagt: "Und Gott sah, daß es gut war." Dem Willen Gottes zu unserer Freiheit entspricht also unsere Pflicht zu ihr. Sollte jemand einwenden, eine obligatorische Freiheit sei doch ein seltsam Ding, dann wäre ihm zu antworten: Rein theoretisch, abgesehen von der Liebe, ist sie natürlich Unsinn; innerhalb der Liebe aber - und einen anderen Kontext gibt es für den Christen nicht - ist die Pflicht zur Freiheit das Selbstverständlichste und Einfachste von der Welt.

II Die Pflicht zum Zeugnis für die Freiheit

Ein Prager Atheist, von westdeutschen Christen eingeladen, sagte während der Diskussion nach seinem Vortrag: "Sehen Sie, wir haben nur die Wahl zwischen zwei Absurditäten. Der liebe Gott und Auschwitz, das zusammen ist absurd. Aber auf der anderen Seite sage ich manchmal zu meinen Freunden: So, die Materie ist also ewig, und alles ist klar. Und manchmal erzeugt sie also einfach so etwas wie die 9. Symphonie?"

Diesen Menschen - aufgeschlossen, sympathisch, verantwortungsbewußt - haben wir Christen das Evangelium zu verkünden. Jene verrückte Oster-Botschaft: daß Gottes Liebe nach Auschwitz doch siegt, und gegen Auschwitz darum nicht siegte, weil sie uns frei will, ohne uns nicht siegen will: wir Menschen sind schuld. Einem Gefängniswärter kann man die Untaten seiner Häftlinge anrechnen; dem Vater mündiger Bösewichter nicht. Das heißt: eine Kirche, die ihren Gott weiterhin als Weltall-Polizisten mißverstände, hätte dem modernen Unglauben nichts zu sagen. Denn wäre Gott das, hätte er im Jahrhundert von Auschwitz und Biafra ebenso restlos versagt wie in den alten Hexenzeiten. Wir können somit die christliche Botschaft heute nur in dem Maße überhaupt verständlich machen, wie wir für die Freiheit und Selbstverantwortlichkeit des Menschen eintreten. Das bedeutet, daß der Kirche als ganzer und ihrer geistlichen Vorhut im besonderen die Brücke zurück in die Gefilde vorgegebener Klarheiten durchaus zerstört ist. Nicht nur um unser selbst willen, weil Gott sie uns gönnt und auferlegt, haben wir die Freiheit zu tragen, sondern aus Solidarität mit den anderen, die jene schönen Klarheiten nie gekannt oder doch schon lange verloren haben, und die dennoch durch uns zum Glauben an die absolute Liebe geleitet werden sollen.

Insofern die Freiheit süßer Wein ist, den Gott seinen Kindern schenkt, dürfen wir nicht im Namen Gottes sie und folglich diesen selbst den anderen madig machen; insofern die Freiheit ein den Mündigen zugemutetes lastendes Joch ist, werden wir es nicht mehr los. Zwar kann einer natürlich in dieser Freiheit auch die Geborgenheit des Kindes wählen, schüttelt aber dadurch nicht seine Verantwortlichkeit ab, sondern hat dafür einzustehen, wenn auf diese Weise vielleicht sein Zeugnis für Gottes Liebe verdunkelt oder ins Gegenteil verkehrt wird.

C

Denken wir wieder an unsere beiden Freundinnen im Apfelgarten. Wie ist der Gewissenskonflikt zu lösen? Was soll die Zaudernde tun?

1) Nehmen wir die Szene als Gleichnis für die formal-ethische Fragestellung, bedeuten die Äpfel also die grundsätzliche Freiheit von allerlei im Mantel der Selbstverständlichkeit einherschreitenden irrationalen Tabus, dann scheint zu sagen: Kirche, greif zu! Die Äpfel hängen schon nicht mehr am Baum. Der reine Naturzustand ist unwiederbringlich dahin. Du kannst nicht länger wie ein behütetes Kind die köstliche Frucht "Freiheit" nur als ferne Lockung hoch über dir sehen. Die Lage ist anders. Die Frucht ist gebrochen und du mußt nur mehr entscheiden, ob du sie annimmst und mit dem Wurm darin irgendwie fertig wirst oder ob du sie unter dem Vorwand der Bravheit feige verrotten läßt und dadurch sowohl ihren Schöpfer als auch deine Schwester Welt betrübst.

2) Geht es um irgendein material-ethisches Problem, bedeuten die Äpfel also verschiedene Freiheiten von inhaltlich-konkreten Verboten, dann läßt sich natürlich keine allgemeine Antwort geben. Wenn ein Verbot psychologisch als Tabu durchschaut ist, dann ist es darum ja durchaus noch nicht ethisch unerheblich geworden! Vielmehr ist zunächst damit zu rechnen, daß der simple aber wirksame Mechanismus des Tabu nichts weiter ist als ein "optimales Programm", das späte Resultat vieler Irrwege und Erfahrungen der Menschheit. Nur wenn die Vernunft in allseits verantwortlicher Forschung und im Gespräch mit anderen zu der ehrlichen Überzeugung kommt, daß in der Gesamtrechnung an Liebe der Nutzen des Apfels den Schaden des Wurms überwiegt: nur dann darf der Apfel geholt werden.

"Die andere weiß nun nicht, was sie machen soll. Das ist ein Gewissenskonflikt." Ja, Karin, treffender kann man die derzeitige Situation der Kirche und vieler kirchlicher Seelen kaum beschreiben. Wenn sie aber auch selber das tut, was sie in all ihren Katechismen anrät, nämlich die Stimme des Gewissens ernst nimmt und den Mut hat, trotz aller möglichen Störungen doch darin den Willen Gottes zu glauben, dann wird irgendwann Gott selbst ihre Konflikte lösen. In diesem Sinn sollten auch wir mit den ersten Christen flehen: Maranatha - Herr, komm!

November 1968

Volle Internet-Adresse dieser Seite: http://www.stereo-denken.de/karin.htm

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samt Geschichte dieses Begriffs und lustigem Stereo-Portrait

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