Jürgen Kuhlmann

Um ein neues Pfingsten

Nicht einmal an Pfingsten können Katholiken, Protestanten und Orthodoxe einmütig miteinander Gottesdienst feiern. Das ist ein Skandal. Wie aber sollen wir uns eine künftige Einheit der Kirche(n) vorstellen? Solange das Bild verschwommen bleibt, gibt es scheinbar keine Probleme; anders, sobald man das gewünschte Ideal scharf einzustellen versucht.

Jüngst traf sich freundschaftlich einer der ökumenischen Arbeitskreise, um den sog. „Lima-Text“ zu besprechen, ein wegweisendes Dokument des Weltkirchenrates [Taufe, Eucharistie und Amt - Konvergenzerklärungen, Paderborn 1982]. Dabei stießen wir auf eine erstaunliche Spannung zwischen zwei Aussagen zum Thema Amt; einigen schien sie ein glatter Widerspruch. An ihm biß das Gespräch sich fest. Der folgende Aufsatz ist ein Beitrag zu diesem Gespräch, welches in der Kirche vermutlich auch lange nach dem Lutherjahr nicht mehr verstummen wird.

Zunächst seien kommentarlos jene Sätze gebracht, deren Gegensatz uns so in Atem hielt: "Eine gemeinsame Antwort muß auf folgende Frage gefunden werden: Wie ist das Leben der Kirche nach dem Willen Jesu Christi und unter der Leitung des Heiligen Geistes zu verstehen und zu ordnen, so daß das Evangelium verbreitet und die Gemeinschaft in Liebe auferbaut werden kann?" (6) - "Das Neue Testament beschreibt nicht eine einheitliche Amtsstruktur, die als Modell oder bleibende Norm für jedes zukünftige Amt in der Kirche dienen könnte. Im Neuen Testament findet sich vielmehr eine Vielfalt von Formen, die an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten bestanden haben" (19).

Heute müsse eine gemeinsame Antwort auf die Organisationsfrage gefunden werden, obwohl sich im Neuen Testament eine Formenvielfalt finde. Ist das nicht ein seltsames Programm? Die heutige Kirche soll auf einen idealen Zustand hinarbeiten, so ideal, daß es ihn nicht einmal am Ursprung gegeben hat, der doch als ideal gilt. Soll die Kirche nach zweitausend Jahren wirklich besser, einiger sein als die Urkirche gewesen ist? Hier muß irgendwo ein Denkfehler stecken. Stellt sich vielleicht, wenn wir ihn finden, das ganze Problem in neuem Lichte dar? Im folgenden beziehen wir uns zunächst auf ein biblisches Ökumene-Prinzip, erforschen dann das Verhältnis katholisch / protestantisch in seiner Wurzel und ziehen zuletzt eine konkrete Folgerung.

Ökumenismus nach Lukas

Schon im Lukas-Evangelium findet sich ein scheinbarer Widerspruch, dessen Auflösung uns weiterhilft. Wir lesen dort: "Johannes begann und sprach: Meister, wir sahen einen, der in deinem Namen Dämonen austrieb, und wehrten es ihm, denn er hält sich nicht zu uns. Jesus aber sprach zu ihm: Wehret es nicht! Denn wer nicht gegen euch ist, der ist für euch (9,49 f). Einige Seiten weiter heißt es: "Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich, und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut" (11,23). Im Verhältnis zu Jesus selbst gibt es also keinerlei Neutralität, wohl aber im Verhältnis zu den Jüngern, seien sie noch so sehr von Jesus selbst bevollmächtigt: "Wer euch hört, hört mich; wer euch verwirft, verwirft mich" (10,16). Diese Aussagen sind keine unverbindlichen Kalendersprüche, sondern bilden miteinander ein geradezu verblüffend ausbalanciertes ökumenisches Prinzip.

Welche Erfahrungen haben sich zu ihm verdichtet? Offenbar diese: Die glaubende Gemeinde ist gewiß, daß der Auferstandene sich mit ihr identifiziert. Wer euch hört, hört mich: Wer die Botschaft der Gemeinde annimmt, kann sich darauf verlassen, daß er mit Christus verbunden ist. Wer euch verwirft, verwirft mich: Wer gegen euch spricht und handelt, der kämpft gegen mich selbst; denn ihr seid die Meinen. Beachten wir aber: Hören wie Verwerfen sind ausdrückliche, bestimmte Taten. Sofern entweder für oder gegen die Gemeinde etwas geschieht, identifiziert Christus sich mit ihr.

Anders, wenn jemand die Botschaft der Gemeinde weder annimmt noch bekämpft, sondern neutral bleibt. Was soll sie von einem solchen halten, der sich weder in noch gegen, sondern neben sie stellt? Hier hat Jesu Identifizierung mit der konkreten Gemeinde ihre Grenze. Denn - wie es bei Johannes heißt - im Hause seines Vaters sind viele Wohnungen; die unterschiedlichstem Gemeinden berufen sich zu Recht auf den einen Herrn. Jede mahnt er deshalb: Wer nicht gegen euch ist, der ist für euch. Wenn einer sich euch zwar nicht anschließt, euch aber doch als christliche Gemeinde gelten läßt, dann habt auch ihr ihn gelten zu lassen und damit zu rechnen, daß seine Berufung auf mich vor mir gültig ist.

Das Fleisch ist Recht geworden

Auf die Frage, welches in Europa die älteste übernationale Institution sei, heißt die richtige Antwort: die römisch-katholische Kirche. Historisch, juristisch, soziologisch gibt es da keinen Zweifel. Daß in Jesus das Wort Fleisch geworden ist, das glauben die Christen; daß aus Jesu Impuls - dank der Überzeugung seiner Jünger - schon bald eine rechtlich faßbare Organisation wurde, die im Bischof von Rom ihr Zentrum hatte und bis heute hat, das läßt sich wissenschaftlich feststellen.

Den Katholiken ist dieser äußere Aspekt der Kirche zudem eine Glaubenswahrheit. Auf die Frage, "was es heißt: das Wort ist Fleisch, ist Mensch geworden" gibt Möhler (1796-1838) zur Antwort, "erstens, daß es bei weitem mehr heiße, als es habe dreißig Jahre und etliche sichtbar und vernehmlich in Palästina unter den Juden gewirkt; zweitens: daß es auch bei weitem mehr sagen wolle, als das Wort habe damit geendet, daß es glücklich noch vor seinem Erlöschen zu Papier gebracht worden sei." [Symbolik, Mainz 1864, 423]. Vielmehr sei die äußere sichtbare Kirche eine notwendige Folge der "äußeren historischen Offenbarung, deren ganzes, eigentümliches Wesen ein fortwährendes, bestimmtes, äußeres Lehramt erheischt" (420).

Deshalb scheint das katholische Ideal der Ökumene ebenso einfach wie schlüssig: Alle Kirchen sind dann wieder eins, wenn sie sich als Teilkirchen im Verband der einen, allumfassenden, eben kat-holischen Kirche verstehen, unter der Leitung des Nachfolgers Petri. "Auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen" (Mt 16,18), steht in großen Lettern auf Goldgrund an der Innenwand der Peterskuppel. Christi Vorhaben ist geglückt und besteht bis zum Ende der Zeiten. Das Wort ist Fleisch geworden und lebt fort als Recht.

Aber das Recht macht es nicht

Der katholischen Sicht steht schroff die protestantische entgegen. Und schon bei Mattäus lesen wir, nur fünf Verse nach jener Inschrift im Papstdom, eine ganz andere Rede Jesu an Petrus: "Geh mir aus dem Weg, Satan! Mein Skandal (=Stolperstein) bist du, weil du nicht göttlich, sondern menschlich denkst." Nun, der Dezember 1984 bringt den 500. Jahrestag der grausigen Hexenbulle "Summis desiderantes affectibus". Im Blick auf die Papstgeschichte wirkt jene Polarität Fels/Satan wie eine ungeheure Prophetie des Evangelisten. Die Katholiken haben ihren einen Pol herausgewählt, die Protestanten den anderen: "Zu einer Institution kann man keinen Glauben, sondern nur Aberglauben haben ... Derjenige, der eine Garantie für die Wahrheit des göttlichen Wortes sucht, verrät dadurch seinen Unglauben ... Diese Form des Unglaubens liegt im Wesen des Papalismus beschlossen und steht hinter so gut wie allen heutigen Konversionen zur Papstkirche" [R. Prenter, Kerygma und Dogma 1955, 57].

Beim letzten Abendmahl sind die Jünger traurig. Noch ist Jesus im Fleische bei ihnen, zum Abschied aber. Da tröstet er sie: „Ich sage euch die Wahrheit: es kommt euch zugute, daß ich fortgehe. Denn ginge ich nicht fort, so würde der Anwalt nicht zu euch kommen. Wenn ich aber fort bin, sende ich ihn zu euch ... den Geist der Wahrheit« (Joh 16,7 f.13). Dieses heilsgeschichtliche Noch/Dann der Abschiedsreden weist uns den Ausweg aus dem "konfessionsstiftenden" Widerspruch zweier anderer Johannes-Sätze: "Das Wort ist Fleisch geworden" (1,14) sagen die Katholiken - die Protestanten sind überzeugt: "Der Geist ist es, der lebendig macht, das Fleisch nützt nichts" (6,63). Für die einen ist nach Pfingsten das Fleisch Organisation geworden, die anderen stehen in der Nachfolge des Apostels Paulus, der von sich sagte: "Von jetzt an kennen wir niemanden nach dem Fleisch; hätten wir auch Christus nach dem Fleisch gekannt so doch jetzt nicht mehr!" (2 Kor 5,16)

Der Konfessionsgegensatz katholisch / protestantisch ist nichts anderes als - im Medium des Organisatorischen - ein Ausdruck der heilsökonomischen Spannung zwischen dem äußerlich sichtbar, eben Fleisch und Recht gewordenen WORT Gottes und seinem Heiligen GEIST, welcher prinzipiell nie Wort werden, sich vielmehr erst offenbaren kann, sobald das - auf sich beharrende, die Welt von sich aus entwerfende - Wort wieder abgetan und entschränkt ist. Das katholische Prinzip repräsentiert des göttlichen Wortes Ja zum Fleisch, das protestantische Prinzip steht für des Gottesgeistes Nein zu den Schranken von Wort und Fleisch. Wahr sind beide Prinzipien nur mit-, nicht gegeneinander.

Deshalb wird es nie zur Realisierung des einseitigen Wunschtraums gewisser römischer "Ökumeniker“ kommen. Die Kirche als juristisch durchschaubare, straff um den Papst herum strukturierte Großorganisation - das wäre exakt das Gegenbild zu Pfingsten, nämlich der Turm von Babel, der ja auch als Einheitssymbol errichtet war, „damit wir uns nicht über die ganze Erde hin zersreuen“ (Gen 11,4). Käme es je dazu, dann hätten die Pforten der Hölle die Kirche überwältigt, Petrus wäre seiner Versuchung, ein Satan zu sein, erlegen; dagegen steht die Verheißung. Beim gegenwärtigen Skandal der Gespaltenheit darf es aber auch nicht bleiben. "Wer nicht gegen euch ist, der ist für euch: wie könnte wechselseitige Anerkennung dazu führen, daß - nicht im Buchstaben, aber im Geist - alle Christen endlich eins sind?

Das unzuständige Recht

Bei jenem ökumenischen Treffen wehrte ein reformierter Pfarrer sich dagegen, daß die römische Kirche seine Ordination nicht als gleichrangig anerkenne. Auch im Lima-Text heißt es von den Kirchen ohne bischöfliche Sukzession: Sie können "keinem Vorschlag zustimmen, der darauf hinausläuft, daß das Amt, das in ihrer eigenen Tradition ausgeübt wird, nicht gültig sein sollte bis zu dem Augenblick, wo es in eine bestehende Linie der bischöflichen Sukzession eintritt" (36). Um diesen Punkt dreht sich alles, das Dilemma scheint unausweichlich. Entweder erkennt die Papstkirche die anderen Ämter als ranggleich an, so fänden diese aber notwendig irgendwie innerhalb der katholischen Amtsstrukturen ihren Platz. Das Ergebnis wäre die allumfassende Superkirche als geschlossene Organisation von vollendeter Weltlichkeit, die Gebrochenheit allen Fleisches hätte auf der Ebene der Institution nur mehr sekundäre Zeichen. Oder aber "Rom" bleibt dabei, protestantische Ordinationen nicht als gleichwertig anzuerkennen, und die Zerrissenheit ist weiterhin unheilbar. Gibt es eine - auch nur wünschbare - Zwischenlösung?

Ja. Um die Entscheidung ersucht, ob eine Rechtsauffassung zutreffend sei oder nicht, erklärt ein Gericht sich bisweilen für unzuständig. Dies scheint mir bei unserer Frage die allein angebrachte Lösung. Ob Menschen bei einer bestimmten Feier im Worte, d.h. im Glaubensausdruck eins seien, das kann eine Kirchenordnung rechtlich festlegen. So gesehen, werden manche Trennlinien bleiben müssen. Noch lange nicht wird der Papst und ein Zeuge Jehovas am 15. August konzelebrieren. Ob Christen aber hier und jetzt im heiligen Geist eins seien, dazu kann eine Gemeindeordnung weder ja noch nein sagen. Hier ist jeglicher Rechtsstandpunkt als solcher unzuständig - eben das aber kann (und sollte!) er noch rechtsverbindlich feststellen. Die römischen Instanzen dürfen nicht alle übrigen Ämter für gleichwertig erklären und damit - nach ihrem unaufgebbaren Selbstverständnis - im Grunde für die eigene Organisation vereinnahmen. Aber auch als wertlos und ungültig dürfen sie die fremden Dienste nicht abtun. Denn das Kirchenrecht hat seine Besonderheiten. "In den Himmel aufgefahren", d.h. jenseits aller welthaften Organisationslinien ist der Herr der Kirche: Ihm, nicht dem Vatikan, stehen oder fallen seine nichtkatholischen Diener.

Aus diesem Ansatz scheint mir zu folgen: Die Interkommunion wäre weder weiterhin zu verbieten noch offiziell zu fördern. Für beides fehlt die Legitimation. Natürlich sind Messe und Abendmahl - rechtlich gesehen - einander nicht gleichwertig. Beide stehen innerhalb verschiedener Wertkontexte (und führen ja, geistlos vollzogen, auch zu widersprüchlichen Übeln, das Abendmahl zur Profanierung, die Messe zur Magie). Wohl aber kann es geschehen, daß Einzelne oder Gruppen bei einer anderen Kirche zu Gast sind und der Geist der Einheit diese aktuelle Gemeinde ermutigt, sie solle jetzt das tun, was Jesus uns zu seinem Gedenken aufgetragen hat. Dann mische kein tötender Buchstabe sich ein.

"Ein neues Pfingsten" hat Papst Johannes XXIII. für die Kirche erhofft: Vielfalt der Zungen, eine Liebesglut. Sollte die vorgeschlagene Sicht der organisatorisch vielfachen und geistlich geeinten Kirchengemeinschaft nicht ein Schritt in die rechte Richtung sein? So würde die "gemeinsame Antwort" - in der Metasprache des Heiligen Geistes gewissermaßen - gerade darin bestehen, daß es in der Sprache der sichtbaren Organisation auch weiterhin bei jener "Vielfalt von Formen" bleiben sollte, wie sie seit dem Neuen Testament bis heute in der Christenheit gedeiht.

Übrigens fordert der Ökumenische Rat alle Kirchen auf, ihm offiziell mitzuteilen, welche Folgerungen sie aus dem zitierten Lima-Text ziehen können. Eine lebhafte Diskussion ist zu wünschen. Antworten werden bis zum 31. Dezember 1984 erbeten an das Sekretariat für Glauben und Kirchenverfassung, Ökumenischer Rat der Kirchen, 150 route de Ferney, 1211 Genf 20, Schweiz.

April 1983


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