Jürgen Kuhlmann

Das Märchen von den Wunderfiltern

Vorwort

An sich dürfte ein Märchen keinen Kommentar brauchen; wenn es sich nicht selbst erklärt - könnte man sagen - so verdient es keine Erklärung. Handelt es sich jedoch um ein bewußt christliches Märchen, dann ist dieser strenge künstlerische Standpunkt vielleicht doch zu eng. Und bietet gar eine geistliche Zeitschrift ein solches Märchen ihren Lesern an, dann ist ein Vorwort fast notwendig: weil sonst die Zeitschrift für die schlimmen Folgen mitverantwortlich wäre, zu denen ein Mißverständnis leicht führen kann.

Wir bitten unsere Leser deshalb, Folgendes zu bedenken: In einem Märchen werden Haltungen und Schicksale sauber auf verschiedene Figuren verteilt, welche in Wirklichkeit, leider oder zum Glück, immer beisammen sind. Jeder von uns trägt den Wolf und Rotkäppchen in seinem Herzen. Wer sich also in der folgenden Geschichte nicht nur vorwiegend und in bestimmten Hinsichten, sondern ausschließlich in einer Gestalt wiedererkennte, der hätte nichts verstanden. Die Rollenverteilung ist hier ähnlich aufzufassen wie die Verschiedenheit der christlichen Stände, des Laien- und des Rätestandes; beide sind die deutlich ausgeprägten Seiten einer einzigen Goldmünze, des Christenlebens in dieser Welt. Als Bild und Zeichen verstanden, ist jeder Stand notwendig einseitig; jedes Bild hat nur eine Seite. Wer aber in der Wirklichkeit seines Lebens die eine Seite gar nicht hätte, der besäße auch die andere nur scheinbar.

Vielleicht trägt es zum besseren Verständnis des Märchens bei, wenn man weiß, daß es kurz vor der Priesterweihe geschrieben worden ist, und zwar als Hochzeitsgeschenk für einen Freund aus der Zeit gemeinsamen Jurastudiums.

Rom, den 4. Dez. 1962

Das Märchen von den Wunderfiltern

Es waren einmal zwei Buben, die hatten immer großen Durst. Doch nicht auf Milch oder Bier oder schwarzen Johannisbeersaft waren sie aus, sondern nur auf Wasser. Des Tages dutzendmal liefen sie zu allen Quellen in der Nähe und tranken nach Herzenslust, halfen einander auch beim Trinken und waren allezeit fröhlich und guter Dinge.

Nun geschah es eines Tages, daß ein Fremder in ihr Dorf kam. "Ihr zwei müßtet einmal ans Meer!" sagte er zu Georg und Lorenz. "Soweit man sehen kann, ist da nichts als Wasser. Das wäre etwas für euch, nicht wahr?" Er wußte freilich wohl, daß man mitten auf dem Meer verdursten muß; das Meerwasser ist nämlich so salzig, daß man um so mehr Durst bekommt je mehr man trinkt. Weil er selber jedoch viel Meerwasser geschluckt hatte und den scheußlichen Geschmack; nie mehr loswurde, war er den Buben neidisch und wollte ihr Verderben. Er schwärmte ihnen solange vom Meere vor, bis Georg und Lorenz sich begeistert zunickten: "Da müssen wir hin!" Sie schnürten ihre Ränzel, sagten Vater und Mutter Lebewohl und zogen fort. Sooft sie unterwegs Durst bekamen, fragten sie die Leute nach einer Quelle; die hätten ihnen zwar lieber ihr teures Bier verkauft und schüttelten darum verwundert den Kopf, zeigten ihnen aber doch ihre Quellen.

So waren sie viele Wochen gewandert und dem Meer bereits nahe. Da führte sie eines Abends ihr Weg in einen tiefen Wald. Es war aber Mai; um sie herum zwitscherten lustig die Vögel und so hatten unsere zwei gar keine Angst. Die Sonne war untergegangen, da erblickten sie vor sich eine Quelle und daneben einen uralten Wegweiser; dessen verwitterte Inschrift zu lesen war es jedoch schon zu dunkel. "Macht nichts, sagte Lorenz, morgen früh sehen wir weiter." Sie aßen vergnügt ihr Käsebrot und tranken aus der frischen Quelle, dann, nach kurzem Abendgebet, kuschelte jeder sich auf dem weichen Moos zusammen: "Gute Nacht, Lorenz" - "Gute Nacht, Georg" - und schon waren sie fest eingeschlafen. Eines nach dem anderen gingen auch die Vöglein zur Ruh; einzig eine Nachtigall sang noch lang in der Beiden Träume hinein - bis auch sie müde ward und verstummte: dunkel und schweigend lag alles ringsum, nur die Quelle murmelte leise im Schlaf.

Da, was war das? Die Quelle leuchtete auf einmal in wundersamem Glanz. Und nicht nur sie, auch das Moos, die Baumstämme, ja selbst der alte Wegweiser, alle schimmerten wie von einem milden Licht verzaubert und waren doch sie selber, nur viel schöner. Am hellsten war dieser Schein gleich neben den schlafenden Buben; denn dort stand Sie. Sie hielt ein Tuch aus Licht um sich geschlungen und blickte lang und ernst auf die beiden nieder. Sodann bückte sie sich und zupfte Lorenz am Ärmel. Der grunzte und drehte sich auf die andere Seite. Die Fee lachte leise und wartete etwas. Darauf rüttelte sie ihn so heftig, daß er aufwachte. "Was ist denn los?" brummte er, dann aber sah er Sie. "Es ist Zeit, Lorenz, steh auf! " sagte sie und half ihm in die Höhe. Als er stand, ließ sie ihn los und hielt plötzlich ein blitzendes Kristallglas in der Hand, darin funkelte und hüpfte es so silberlebendig, daß dem armen Lorenz schon allein vom Schauen seltsam warm ums Herz wurde; verzückt starrte er auf das Wunderglas und das lichttanzende Wasser darinnen. "Trink, Lorenz!" sagte da die Fee und hielt ihm behutsam mit beiden Händen den Kristall an die Lippen. Er nippte zuerst, trank dann in tiefen Zügen, doch das Glas blieb immer voll. Ihr wollt wissen, wie es ihm schmeckte? Alle Wörter aller Sprachen reichen nicht aus, das zu beschreiben. Die fetteste Milch, das würzigste Bier, der edelste Wein und die duftigste Hühnerbrühe in all ihrer Herrlichkeit zusammengenommen schmecken auch nicht ein Tausendstel so gut wie das Silberwasser. Als Lorenz sich satt getrunken hatte, war der Kristall auch schon verschwunden. Nun hieß ihn die Fee seine Sachen zusammenpacken, nahm ihn dann bei der Hand und sagte: "Komm mit!" Beim Wegweiser angelangt konnte Lorenz jetzt, in ihrem Lichte, leicht die Inschrift lesen. Links ging es zum Meer und rechts zur Wüste. Die Fee wandte sich nach rechts und er, ihre Hand fester fassend, ging ohne Sträuben mit. Mehr und mehr verlor sich der Schimmer in der Ferne und bald lag der Platz, wo Georg allein weiterschlief, wieder still und im tiefsten Dunkel da.

Ihr könnt euch denken, wie traurig am nächsten Morgen der arme Georg war. Beim Suchen fand er dann rechts vom Wegweiser ein zerrissenes Spinnennetz, während vor dem Weg zum Meer ein heiles glitzerte. Da begann er zu weinen und schluchzte laut: "Mein armer Lorenz ist verrückt geworden. Wir wollen zum Meer, und er geht in die Wüste. Bitte , lieber Gott, laß ihn nicht elend verdursten!" Selbst machte er sich auf den Weg zum Meer. Er wußte ja nicht, daß man da auch verdursten muß, sondern freute sich heiß auf das viele, viele Wasser.

Am späten Nachmittag sah er in der Ferne ein großes Blitzen, dann war der Wald plötzlich zu Ende und er stand am Rand eines gewaltigen Abgrunds: drunten aber war das Meer. Weit und unergründlich verlor es sich nach beiden Seiten in der Dämmerung; in der Mitte aber, gerade vor ihm, oh! - da breitete die Sonne, die sich eben zum Untergehen anschickte, eine goldschimmernde Bahn auf das dunkle Wasser, die reichte, wundersam und aller Verheißungen voll, bis ans Ende der Welt. Georgs Herz ward wie überflutet von einer tiefen Ruhe. Er wußte jetzt, klar und ohne Zweifel: fürs Meer war er bestimmt, das Meer hatte er gefunden, er war am Ziel. Und dieses Ziel traf sich überall auf der Straße aus Gold bereits mit dem Ziel aller Ziele, ja, das Hüben war schon Drüben, beide waren untrennbar verschmolzen zu einem einzigen Glanz.

Ohne Eile stieg er später hinab, trat an den Strand und beugte sich nieder. Doch wie? Mischte sich da nicht ein neuer Klang in das vertraute Plätschern der Wellen? Er lauschte. Kein Zweifel: das Wasser hob in süßen Akkorden zu singen an, immer reicher und voller ertönte Musik: mit einem Schlag aber war alles still und "Halt,Georg!" sagte Sie. Verdutzt blickte er nieder und sah, wie eine Nixe ihn aus großen Augen aufmerksam anschaute. Sie nickte ihm grüßend zu und sprach: "Aus dem Meer kann kein Mensch ohne Filter trinken. Weil du aber für das Meer bestimmt bist, will ich auch dir helfen wie deinem Freund Lorenz. Komm her!" Ihre Stimme klang fern, und war doch die immer erwartete und nie gehörte Antwort auf seine eigene. Er kniete sich hin und sie küßte ihn. "So, Georg," sagte sie dann, "jetzt habe ich dir ein Filter eingeküßt. Von nun an wird das Meer dir süß schmecken: Du darfst mich aber nicht vergessen, sonst muß das Filter von dir weichen und du mußt mitten im Wasser elend verdursten." Das hatte sie sehr ernst gesagt. Jetzt aber lächelte sie und - war verschwunden.

Als Georg am nächsten Morgen erwachte, erinnerte er sich zwar deutlich der Begegnung mit der Nixe. War das aber alles ein Traum gewesen oder war es wirklich geschehen? 'Ich glaube doch, wirklich!' dachte er bei sich, 'ich hatte ja zuvor noch nicht geschlafen.' Doch was lag daran! Spiegelglatt dehnte sich vor ihm das morgendliche Meer und lockte zu anderem als krausen Grübeleien. Er hatte zwar nie schwimmen gelernt, dennoch spürte er selig, wie das Wasser ihn wiegte und trug. Feierlich tat er den ersten Schluck. Darauf wußte er sich nicht mehr zu lassen vor lauter Freude, trank in großen Zügen und schwamm und tauchte so ungestüm herum, daß die Fische verwundert flohen und einige alte Muscheln am Meeresgrund böse gegen den Ruhestörer loszeterten. Wahrscheinlich waren sie aber nur traurig weil sie selbst festgewachsen waren.

Von nun an schwamm Georg täglich im Meer und trank von dem herrlichen Wasser in sich hinein soviel er nur konnte. Anfangs dachte er häufig dankbar an die Nixe und das Wunderfilter. Als das Wasser aber Woche für Woche gleich süß schmeckte, gewöhnte er sich mit den Jahren daran und fand es gar nicht mehr wunderbar, sondern ganz in der Ordnung. An die Nixe dachte er kaum mehr. Da wurde das Filter allmählich schwächer; er merkte es freilich nicht. Wohl aber spürte er, wie das Wasser von Tag zu Tag salziger schmeckte, und war recht ungehalten darüber. "Was bin ich doch früher für ein Tropf gewesen," sprach er bei sich, "daß ich mich über dieses fade Wasser so närrisch gefreut habe. Jetzt bin ich aber gescheiter geworden. Ich werde weniger trinken." Das half freilich nichts, sondern bald trat das Furchtbare ein: Eines Tages war der letzte Rest von Erinnerung in seinem Herzen gestorben; er hatte die Nixe vergessen. Den nächsten Schluck spie er fluchend aus: "Pfui Teufel, das Zeug ist ja ungenießbar! Was bin ich bloß für ein Narr gewesen! Jetzt aber bin ich erst richtig gescheit geworden: ich werde überhaupt nichts mehr davon trinken." Wütend drehte er sich um und wollte fortstapfen. Doch - soviel er sich auch anstrengte, er kam vom Meer nicht los. Eine geheime Macht hielt ihn fest, das war - ihr habt es gewiß schon erraten - der Kuß der Nixe. Ein solcher macht nämlich, daß einer für immer dem Meere verfallen bleibt.

Jetzt begann eine entsetzliche Zeit. Sein Durst wuchs und wuchs, doch da war nichts, ihn zu löschen. Nach zwei Tagen warf er sich, vor Verzweiflung rasend, in die flache See und schnappte nach Wasser - umsonst. Die salzig brennende Brühe linderte nicht, sondern verschärfte nur seine Sterbensqualen. Da schleppte er sich ans Ufer und sackte verzweifelt zusammen. Vor ihm wogte Wasser über Wasser, er aber mußte verdursten.

So fand ihn, dreivierteltot, später ein einsamer Wanderer. Er pflegte ihn gesund und fragte ihn dann: "Kennst du mich, Georg?" "Du bist doch nicht ..." "Natürlich bin ich dein alter Freund Lorenz." Sie fielen einander um den Hals. Dann sagte Georg: "Warum bist du denn damals in der Nacht so ohne Abschied fort? Und wie ist es dir seither ergangen? Erzähle!"

Da erzählte Lorenz dem staunenden Freund von der Fee, dem Silberwasser und ihrem Weg zur Wüste. "Schon am Mittag erreichten wir die Wüste, aber immer ging es weiter, bis ringsum nur mehr Sand zu sehen war. Ich hatte furchtbaren Durst bekommen und bat Sie um Wasser. Da blieb sie stehen und sagte: 'Lieber Lorenz, hier muß ich von dir scheiden. Höre darum jetzt gut zu! Du hast von dem Silberwasser verkostet und weißt, daß auf der Welt nichts ihm gleichkommt. Geh darum in die weite Welt und erzähle von ihm allen Leuten; denn einmal wird alles Wasser darein verwandelt werden und darauf sollen sie sich jetzt schon freuen. Weil die meisten dir aber nicht glauben, sondern dich auslachen werden, darum könntest du leicht mich, deine Botschaft und das Silberwasser vergessen und wieder mit gewöhnlichem Wasser zufrieden sein. Das wäre aber doch schade, nicht wahr?' Dabei sah sie mich so lieb an, daß ich weinen mußte und sagte: 'Ach bitte, hilf mir doch, daß ich dich nie vergesse!' ‚Ich will dir gerne helfen' sagte sie, ‚wie auch deinem Freund Georg. Komm her!' Ich kniete mich hin und sie küßte mich. ‚So, Lorenz,' sprach sie, 'jetzt habe ich dir ein Filter eingeküßt. Von nun an wird nur soviel Wasser dir schmecken wie du zum Leben brauchst. Was du über den Durst trinkst, wird dir im Munde bitter werden. Dadurch wirst du mich nie vergessen können. Und jetzt trink!' Ich trank und trank, plötzlich aber war der Kristall, den sie mir hinhielt, leer. Ich hätte gern noch weitergetrunken und blickte unzufrieden auf. "Denk an das Filter!" lächelte sie aufmunternd und fuhr fort: ‚Das Glas schenke ich dir. Trink daraus, aber nie mehr als du brauchst. Manchmal werde ich selbst, dich zu trösten und zu stärken, etwas Silberwasser hineintun. Und jetzt geh in die Welt und erzähle den Leuten, was du erlebt hast. Wenn du aber dein Glas einmal ganz voller Silberwasser siehst, dann magst du rasten und still auf den Tag der großen Verwandlung warten. Leb wohl, Lorenz!' Sie gab mir ihre Hand und - war verschwunden. Ja, Georg, das ist meine Geschichte. Seitdem ziehe ich umher und erzähle sie, die meisten jedoch lachen mich aus. Ich weiß fast schon nicht mehr, ob sie wahr ist oder nur geträumt; denn es ist so selten, daß ich richtiges Silberwasser in meinem Glas finde und dann ist es immer nur ganz wenig. Ach, ich bin schon recht müde geworden. Aber rasten darf ich noch nicht. Erst muß Sie einmal mein Glas ganz voll geschenkt haben. Hier ist es, schau!"

Georg hatte in tiefem Schweigen zugehört. Als er vernahm, die Fee habe auch von ihm gesprochen, fing sich in seinem Herzen etwas zu regen an; da stöhnte und ächzte es und plötzlich tat es einen Klick als spränge ein verrostetes Schloß auf, und vor seiner Seele stand, klar und lieblich, das Bild seines schönsten Tages. Der Kuß der Nixe! Das Filter! Ja wie hatte er sie nur vergessen können? Sie allein hatte das Meer süß gemacht. Jetzt aber, ja, jetzt war das Meer wieder sein!

Als Lorenz ihm müde sein Glas hinhielt, nahm er es sacht, ging damit zum Ufer, kniete sich hin, schöpfte es randvoll und zeigte es dem Freund. Der stammelte nur: "Mein Gott!" und faltete die Hände. Denn das Wasser blinkte und strahlte wie Tausende von Diamanten, dazu quoll und hüpfte es - ja, manche Tropfen sprangen geradezu tollkühn herum, doch keiner fiel zu Boden. Lorenz erfaßte ein Zittern, plötzlich spürte er heiß und drängend den Durst in sich aufsteigen. Das Meer zu suchen war ja auch er ausgezogen, noch nie aber hatte er auch nur einen Tropfen verkosten dürfen. Und jetzt war vor seinen Augen das Meer selbst zu seinem geliebten Silberwasser geworden! Er ertrug die Sehnsucht nicht länger. "Gib her!" rief er heiser und griff nach dem Glas. Georg hielt es zwar fest, doch im Nu hatte er es ihm aus der Hand gerissen und setzte es an die Lippen.

Was war aber das? Erschrocken ließ er es wieder sinken. Tanz und Gesprüh erloschen, schaukelte stumpf eine widerliche Brühe in seinem Glas. Ein ingrimmiger Probeschluck, und die Enttäuschung war besiegelt. Voller Wut schüttete er das Salzwasser aus und hätte das Glas weit ins Meer geschleudert, wäre Georg ihm nicht in den Arm gefallen. "Armer Freund!" sagte er, "aber es mußte ja so kommen. Nicht dein Filter hat dir zwar diesen Trank vergällt; Durst hast du ja genug gehabt. Aber es ist doch Meerwasser, dafür aber braucht es ein eigenes Filter. Komm, laß dich trösten!"

Er nahm ihn in den Arm und erzählte ihm auch seine Geschichte. Darnach sahen beide still vor sich hin. Schließlich nahm Lorenz das Glas, schöpfte es voll und brachte es dem Freund. Sowie der es ergriff, funkelte und sprang das Wasser wieder wie vorhin. Lange betrachteten sie zusammen das herrliche Bild, dann setzte Georg daß Glas fragend an die Lippen; Lorenz nickte lächelnd. Als Georg ausgetrunken hatte, stellte er das Glas neben sich auf den Boden und beide blickten aufs Meer hinaus. Auf einmal fragte Lorenz: "Warum hast du es denn nicht leergetrunken?" "Hab ich doch!" Sie starrten auf das Glas: Heller und höher als je jauchzte es darinnen. Da wußten sie, daß sie nicht allein waren. "Komm, das ist für dich!" sagte Georg.

Leider ist eine Geschichte nie dann aus, wenn sie am schönsten ist. Nein, nicht leider; denn sonst wäre die Welt schon an Ostern untergegangen und wir wären allesamt nie geboren worden. So versank auch an diesem Tage, da unsere beiden Freunde einander und das Silberwasser wiedergefunden hatten, genau wie sonst die Sonne hinter ihrer goldenen Straße. Viele andere Tage folgten, und wenige waren so schön wie der erste. Denn ob gleich silbernes Meerwasser das köstlichste auf der Welt ist, kann einer sich doch selbst daran gewöhnen, und so erging es Georg. Lorenz hingegen fand keineswegs jeden Tag Silberwasser im Kristall; gar ein ganzes Glas voll endlich bescherte ihm die Fee nur alle heiligen Zeiten einmal. Doch war jeder für den anderen eine Hilfe; darum beschlossen sie auch, fortan beisammen zu bleiben. Fing nämlich Georg wieder einmal an, das Wasser gewöhnlich zu finden und den Kuß der Nixe zu vergessen, dann brauchte er nur die durstigen Augen seines Freundes zu sehen, der ihm sehnsüchtig zuschaute: und er wußte wieder, was er trinken durfte und wem er es verdankte. Verfiel dagegen der immer etwas meerdurstige Lorenz darauf, mit seinem Geschick zu hadern und nicht mehr recht zu glauben, daß einmal das ganze Meer für alle süßes Silberwasser sein wird: dann schaute er auf Georg, wie der mit leuchtendem Gesicht sein Glas austrank. Davon wurde auch Lorenz immer das Herz warm; "mein Filter ist halt dafür gut, daß er seines nicht verliert" dachte er und war es wieder zufrieden, noch eine Weile zu warten. So lebten die beiden und warteten auf den Tag der großen Verwandlung. Und euch kann ich es Ja sagen: Sie leben und warten noch heute.

Wenn aber einmal an der Kasse des Himmels alle Eintrittskarten vergeben sein werden - lauter Freikarten, versteht sich, denn niemand kann den Himmel bezahlen - dann wird, kurz vor Sonnenuntergang, der liebe Gott zu unseren beiden sprechen: "Jetzt habt ihr genug gewartet, kommt!" Dann werden sie zusammen auf dem weichen Sonnenteppich übers Meer wandern und, durch die Sonne hindurch, bis an die Himmelstür gelangen; die ist nämlich gleich dahinter. Wer wird dort schon warten, sie zu empfangen? Nicht St.Petrus; der erledigt später im Büro die Formalitäten. Auf der Schwelle aber, goldgekrönt und in einem bunten Kleid aus Himmelsrosen, steht Sie. Sie geht ihnen ein Stück entgegen, küßt sie wiederum und sagt dann: "So, ihr Lieben, jetzt habe ich euch eure Filter wieder weggeküßt. Jetzt braucht ihr sie nicht mehr." Und während Erde, Meer und Alles verwandelt werden, nimmt Sie die Beiden bei der Hand und sie gehen mit ihr in den Himmel.

Ja, ja, so wird's sein. IHR KÖNNT EUCH DARAUF VERLASSEN.

LDMq

August 1962

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