Jürgen Kuhlmann

Wir sind Gottes Melodie

"Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist, spielt weiter", so beginnt ein Shakespeare-Stück. Und auch der Hoffnung Klarheit ist die Musik. Im allerkleinsten Lied entschleiert sich das große Geheimnis. Viele Christen würden gern an Auferstehung und ewiges Leben glauben, wüßten sie nur, wie. Wem es so ergeht, der singe - mag sein, daß sein Glaube plötzlich die unvergeßliche Melodie des Ganzen vernimmt.

"Die Ewigkeit kommt nicht nach der Zeit, sondern ist die reine Gültigkeit des in der Zeit für immer Vollbrachten" (Karl Rahner). Weil die Ewigkeit nicht nach der Zeit kommt, deshalb ist zum Beispiel die Frage sinnlos, wie alt Jesus bei der Auferstehung gewesen sei oder in welchem Alter wir unseren eigenen verklärten Leib zu denken hätten. An Weihnachten beten wir das Krippenkind an: das wäre Unsinn, wenn nicht auch Jesu Kindheit irgendwie mit auferstanden, der Vergänglichkeit entkommen wäre.

Das Gleichnis der Technik

Der technische Fortschritt bringt auch neue Gleichnisse. Wenn wir etwa den Ablauf unseres Lebens als Aufnahme einer Schallplatte uns vorstellen, dann fängt die erste Rille mit der Zeugung an, und beim Tod endet die letzte. Mögen die Spiritisten auch von weiteren Lebensrillen auf höherem Niveau schwärmen - der christliche Glaube weiß davon nichts, kann vielmehr dem Paukenschlag des scheinbaren Unglaubens ruhig zustimmen: "... und es kommt nichts nachher" (B. Brecht). Nach der letzten Rille kommt tatsächlich keine weitere mehr, insofern also: nichts. Die große Frage heißt jedoch: Falle ich, sterbend, ins Nichts - oder ins Ganze? Verrottet die zerscherbte Platte auf dem Müll des bloß Gewesenen, nicht mehr Aktuellen - oder kommt sie, heil, ins himmlische Archiv? Die christliche Antwort ist klar: Gott läßt nichts verlorengehen.

Und doch befriedigt diese Vorstellung noch nicht; wesentliche Fragen läßt sie unbeantwortbar. Das ewige Leben kann doch kein totes Archiv sein! Wenn die Platten aber, durch Abspielen, neu zum Leben erwachen sollen: dann müßte solches Abspielen doch jeweils ein besonderes Ereignis sein, das seine eigene Zeit einnähme - und die Ewigkeit wäre wiederum als Zeit nach der Zeit vorgestellt, was wir gerade vermeiden wollten. Außerdem: welche Rillen kämen in welcher Reihenfolge dran? Nein, so geht es nicht. Wie steht es ferner mit denen, die schon als Babys sterben oder sehr unglücklich leben? Müssen sie etwa auch im Himmel noch an der Verkürzung oder Beschädigtheit ihres irdischen Lebensliedes leiden? Diese Konsequenz paßt nicht zu den Glaubensprinzipien, ergibt sich aber scheinbar notwendig aus dem Schallplattenvergleich.

Lebendig aufbewahren?

Da zeigt sich in der lebendig aufbewahrten Musik auf einmal die Lösung des Problems, das ihre bloß technische Speicherung gestellt hat. Wie erfassen wir denn eine Melodie? Immer nur so, daß sie zum Teil physikalisch bereits vergangen, dem erlebenden Bewußtsein jedoch noch Gegenwart ist! Anders könnten wir nicht einmal "Hänschen klein" pfeifen. Die Gegenwart ist eben nicht, wie mancher mathematisch ausgerichtete Sinn meint, bloß die unausgedehnte Grenze zwischen Zukunft und Vergangenheit. Wäre sie das, dann könnten wir keine Musik erleben. Damit eine Folge von Tönen als Melodie, als zusammenhängende Einheit erfahren werden kann, muß ihr ganzes Beziehungsgefüge zugleich und miteinander bewußt sein. Zum befreienden Modell unserer Ewigkeitshoffnung führt diese Erkenntnis, sobald wir das Auferstehungsleben nicht mehr als ein unverbundenes Nebeneinander vieler "verewigter" Individuen ansehen, sondern ernst machen mit dem Paulussatz "Ihr seid alle Einer in Christus" (Gal 3,28):Mindestens was unsere Welt betrifft (von möglichen anderen sehen wir ab), gibt es nur ein göttliches Konzert; zwar besteht es aus unzähligen Einzelmelodien, doch haben wir es uns als eine einzige wogende Symphonie zu denken, deren erste Töne dem göttlichen Bewußtsein auch jetzt noch Gegenwart sind, ja das überhaupt nie zu Ende geht. Denn selbst wenn auf dem Raumschiff Erde einmal jegliches Leben erloschen sein wird, hallt ihr Geschichtslied doch in Gott als unsterbliche Gegenwart weiter; nichts kann je herausfallen aus dem ewigen JETZT.

"Alle meine Entchen" ... ich unterbreche das Lied ... "schwimmen auf dem See": da der zweite Melodie-Teil auch nach der Pause sich auf den ersten als Gegenwart bezieht, nicht bloß als tote, erinnerte Vergangenheit, muß der erste Teil auch nach seinem Verklingen (das sich erst hinterher als Pause herausstellt) gegenwärtig geblieben sein.

So bescheiden diese Erfahrung ist - über mehr als ein paar Sekunden hinaus schafft unser irdisches Bewußtsein .ja kaum die lebendige Vergegenwärtigung des objektiv bereits Vergangenen -, so ist sie doch stark genug, das kategorielle Grundproblem der Auferstehungshoffnung zu lösen. Gottes allumfassendes Jetzt hält unmittelbar gegenwärtig alles, was uns vergangen scheint. Nicht ins Nichts, sondern in dieses lebendige Gewesensein läßt der Tod uns fallen. Weil - bei unverwischbarer Besonderheit jeder gewordenen Einzelmelodie! - jedem hier Vereinzelten dann - in Gott - alles bisher Gelebte zugleich erklingt: deshalb sind Kürze oder Ärmlichkeit irdischer Weisen kein ewiger Nachteil. Ob kurzer Fanfarenstoß, kaum heraushörbare Bratschenpassage oder gar nur winziger Triangelton: auf alles kommt es an in der Symphonie.

All jene "Kleinen" ...

Und jene schrillen Stellen und Mißklänge, deren Geschichte wie Gegenwart so grausam voll sind? Sie darf unser Hoffnungsmut gewiß nicht rechtfertigen. Kindertränen und die Angst des Gefolterten dürfen uns keineswegs als nötig gelten für irgendeine höhere Harmonie. Nicht erklären sollen wir das Böse, sondern bekämpfen, in uns und um uns. So sehr es aber auf Erden immer wieder zu triumphieren scheint: dann, im Zusammenklang des Ganzen, wird seine Nichtigkeit offenbar, ebenso wie die geheime Schönheit des bewältigten Leidens.

"Vor Gott sind tausend Jahre wie ein Tag", Millionen von Schallplattenrillen wie ein nie verklungener Ton. Der Zehnjährige, der ich gewesen bin, die vier Zwanzigjährigen, die meine Urgroßmütter werden sollten, jener "Adam", der seinen äffischen Geschwistern affig vorkam: sie alle sind zwar vorbei, aber gleichwohl da und am Leben : gerade so wie "Hänschen klein" äußerlich schon vorbei ist, wenn gleich "die weite Welt" ertönt, und gleichwohl in mir ganz da - wie könnte er sonst in sie hineingehen?

Wir sind alle darauf aus, Bleibendes zu schaffen. Die allermeisten sind aber nicht in dem Sinn schöpferisch, daß sie Opern oder Statuen zustande brächten, die Jahrhunderte überdauern. Die meisten Menschen vergehen wie die Kondensspur eines Düsenflugzeugs am blauen Himmel. So scheint es. Ihnen allen, jenen "Kleinen", die Jesus so unendlich wichtig nimmt, kann das geschilderte Melodie-Erlebnis ein befeuernder Trost sein: nicht minder dauernd als das höchste Kunstwerk ist die alltäglichste Tat der Liebe; einmal geschehen, gehört sie unverlierbar zum Jetzt der selbstbewußten Ewigkeit. Ihrer ist die relative Unsterblichkeit der Erfolgreichen nur ein geringes Abbild: "Nicht darüber freut euch, daß euch die Geister untertan sind! Freut euch vielmehr, daß eure Namen im Himmel eingeschrieben sind!" Ja: Mein Gott, welche Freude! Jeder von uns ein unvergängliches Melodiestück in Deinem-unserem unendlich aktuellen Konzert: in dieser Sicht wird das - leider allzu unbekannte - Märchen von Volkmann-Leander ("Träumereien an französischen Kaminen" [Reclam-Heft]) zum jubelnden Hymnus. Wir zitieren es wörtlich:

Die himmlische Musik

Als noch das goldene Zeitalter war, wo die Engel mit den Bauernkindern auf den Sandhaufen spielten, standen die Tore des Himmels weit offen, und der goldene Himmelsglanz fiel aus ihnen wie ein Regen auf die Erde herab. Die Menschen sahen von der Erde in den offenen Himmel hinein; sie sahen oben die Seligen zwischen den Sternen spazierengehen, und die Menschen grüßten hinauf, und die Seligen grüßten herunter. Das Schönste aber war die wundervolle Musik, die damals aus dem Himmel sich hören ließ. Der liebe Gott hatte dazu die Noten selber aufgeschrieben, und tausend Engel führten sie mit Geigen, Pauken und Trompeten auf. Wenn sie zu ertönen begann, wurde es ganz still auf der Erde. Der Wind hörte auf zu rauschen, und die Wasser im Meer und in den Flüssen standen still. Die Menschen aber nickten sich zu und drückten sich heimlich die Hände. Es wurde ihnen beim Lauschen so wunderbar zumut, wie man das jetzt einem armen Menschenherzen gar nicht beschreiben kann.

So war es damals; aber es dauerte nicht lange. Denn eines Tages ließ der liebe Gott zur Strafe die Himmelstore zumachen und sagte zu den Engeln : "Hört auf mit eurer Musik; denn ich bin traurig!" Da wurden die Engel auch betrübt und setzten sich jeder mit seinem Notenblatt auf eine Wolke und zerschnitzelten die Notenblätter mit ihren kleinen goldenen Scheren in lauter einzelne Stückchen; die ließen sie auf die Erde hinunterfliegen. Hier nahm sie der Wind, wehte sie wie Schneeflocken über Berg und Tal und zerstreute sie in alle Welt. Und die Menschenkinder haschten sich jeder ein Schnitzel, der eine ein großes und der andere ein kleines, und hoben sie sich sorgfältig auf und hielten die Schnitzel sehr wert; denn es war ja etwas von der himmlischen Musik, die so wundervoll geklungen hatte. Aber mit der Zeit begannen sie sich zu streiten und zu entzweien, weil jeder glaubte, er hätte das Beste erwischt; und zuletzt behauptete jeder, das, was er hätte, wäre die eigentliche himmlische Musik, und das, was die andern besäßen, wäre eitel Trug und Schein. Wer recht klug sein wollte - und deren waren viele -, machte noch hinten und vorn einen großen Schnörkel daran und bildete sich etwas ganz Besonderes darauf ein. Der eine pfiff a und der andere sang b; der eine spielte in Moll und der andere in Dur; keiner konnte den andern verstehen. - So steht es noch heute.

Wenn aber der Jüngste Tag kommen wird, wo die Sterne auf die Erde fallen und die Sonne ins Meer und die Menschen sich an der Himmelspforte drängen wie die Kinder zu Weihnachten, wenn aufgemacht wird - da wird der liebe Gott durch die Engel alle die Papierschnitzel von seinem himmlischen Notenbuche wieder einsammeln lassen, die großen ebensowohl wie die kleinen, und selbst die ganz kleinen, auf denen nur eine einzige Note steht. Die Engel werden die Stückchen wieder zusammensetzen, und dann werden die Tore aufspringen, und die himmlische Musik wird aufs neue erschallen ebenso schön wie früher. Da werden die Menschenkinder verwundert und beschämt dastehen und lauschen und einer zum andern sagen: "Das hattest du! Das hatte ich! Nun aber klingt es erst wunderbar herrlich und ganz anders, nun alles wieder beisammen und am richtigen Orte ist!"

Ja, ja! So wird's. Ihr könnt euch darauf verlassen.

Veröffentlicht in "Christ in der Gegenwart" vom 1. Januar 1978, S. 5 f.

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