Jürgen Kuhlmann

Ökumene von Christen und Unreligiösen

Wie ein Radfahrunfall und ein gottloses Buch befreiend zusammenwirkten

Zeichen müssen keine Wunder sein. Was geschah, erklärt sich physikalisch und hat mir doch, gleich einem Blitz im Finstern, neu meinen Weg erhellt. Auf dem Fahrrad unterwegs, bin ich plötzlich gefesselt. Keinen Millimeter läßt der rechte Schuh sich vom Pedal lösen. Zum Glück fahre ich langsam, ohne Sturz findet der linke Schuh Stand auf der Straße. Was ist passiert?

Allzu lang, hat ein Schuhband sich ins Pedal verwickelt. Kann ich es lösen? Aussichtslos, ich reiche nicht hinab. Zerreißen läßt das feste Band sich nicht, hilflos stehe ich da, bis ein fremder Radfahrer anhält und es mühsam ent-wickelt. Wir sind uns einig: So etwas haben wir noch nie erlebt.

Oder doch? Ähnlich gefesselt sind viele im Geist, und wissen es nicht. Bei den Großen Fragen: Gott? Ewiges Leben? sind die einen rechts aufs Ja, die anderen links aufs Nein fixiert, unfähig zu freiem Ausschreiten auf dem Weg der Wahrheit. Wieder andere finden weder rechts noch links Halt, zappeln mit beiden Beinen grundlos im Leeren. Vernünftig denkt keine der drei Gruppen.

Die Einsicht verdanke ich dem freundlichen Unbekannten, der meinen rechten Schuh so geduldig entfesselt hat. Denn denselben Dienst erweist mir - spirituell - gerade ein Atheist. Von Joachim Kahls Bestseller "Das Elend des Christentums" war mir 1968 der Eindruck geblieben: Stimmt ja irgendwie, ist trotzdem nicht meine Wahrheit, ich bleibe Christ. Drei Dutzend Jahre später folgt nun sein unpolemisches Buch: "Weltlicher Humanismus. Eine Philosophie für unsere Zeit" (Münster 2005). Warum ist die Wirkung jetzt eine andere?.

In verständlicher Sprache betreibt Kahl "Philosophie als geistige Dienstleistung" (10) für Menschen, die von frommen Traditionen wie von modischer Esoterik nichts halten, aber auch mit den Auskünften bloßer Wissenschaft nicht zufrieden sind. In lebendigem Gespräch mit vielen Früheren, die vor derselben Frage nach Allem standen, schlägt er "eine modernisierte, entrümpelte, gesundgeschrumpfte Gestalt von Metaphysik" (67) vor: als vernünftige Mitte zwischen einem Zeitgeist, der das Ganze ausblendet, und Aberglauben, der das Absolute durch "illusionäre Deutung ... zum Heilsprinzip empor stilisiert" und mittels "der schier endlosen Verabsolutierung von bloß relativen Wahrheiten und Vorgängen" (85) aus Menschen Feinde macht.

Die "spirituelle Dimension" (123) überläßt der Autor nicht den Religiösen. Er nimmt das geistige Verlangen der Menschen ernst, zeigt "spirituelle Alternativen zu Gläubigkeiten jedweder Art" (91). Aus dem uralten Schatz unreligiösen Nachdenkens teilt er gültige Einsichten mit. Leistungen der Religion werden durchaus gewürdigt; so sei die biblische Sieben-Tage-Woche, der wir den Sonntag verdanken, "eine kulturrevolutionäre Errungenschaft", das Bilderverbot des Dekalogs habe - durch Weiterfragen - schließlich zum Atheismus geführt (183). Seite um Seite ist meine Reaktion: Stimmt.

Kann es aber sein, daß dieser gottlose Katechismus auch meine Wahrheit sagt? Bin ich kein Christ mehr? Nicht so deutlich formuliert, war doch genau dieser Schrecken in mir am Rumoren, während ich bewegungslos in der Kälte stand. Wohl deshalb habe ich nach gelöster Fessel die Wucht der Freiheit des rechten und des linken Fußes verspürt. Nein, ich muß nicht immer nur meine kirchenbrave Seite leben. Zu echtem Glauben ist die andere ebenso notwendig! Nur wenn ich die antireligiöse Kritik ehrlich mit vollziehe, bin ich bei Jesus, während er der religiösen Obrigkeit sein "Ich aber sage euch!" entgegenschleuderte.

Kann ich dem anderen JK, der links ebenso einseitig fixiert scheint wie ich rechts, gleichfalls zu vernünftiger Freiheit helfen? Mit folgender Kritik sei es versucht, mir verwandelt sie mein "Stimmt irgendwie" von 1968 in ein klar konturiertes geistiges Doppelprofil. Kahls Deutung der weltanschaulichen Kluft leitet irre. Wohl ist die Richtigkeit des Atheismus wie die der Religion unbeweisbar (105), doch sollte ihr Gegensatz nicht als Widerspruch "metaphysischer Hypothesen" (44) gelten. Solche müßten falsifizierbar sein (sich mittels weiterer Forschungen widerlegen und durch bessere ersetzen lassen). Religion und Atheismus sind das nicht, ihr Widerspruch ragt, keiner Wissenschaft überwindbar, unverändert durch die Jahrtausende.

Hypothesen setzen eindeutige Ob-Fragen voraus, so daß nur eine der beiden Antworten richtig sein kann. Fragen nach Gott und Ewigem Leben sind grundsätzlich mehrdeutig, die Antwort kann einem Einzel- oder Gruppen-Bewußtsein existentiell wahr sein, nie ist sie intersubjektiv objektivierbar. Was die eine anbetet, verwirft der andere als Götzenbild; das DANN (=JETZT!) gläubiger Hoffnung zeigt sich dem Zweifel als illusionäres Dann einer unmöglichen Zeit nach dem Tod. Muß das Denken demnach haltlos zwischen beiden Positionen zappeln oder sich willkürlich auf eine festlegen?

Keineswegs. Beidfüßig gehen, Rad fahren, Seil tanzen kann eine Vernunft, sobald sie einsieht: Je nachdem, in welchem präzisen Sinn die entscheidenden Begriffe gebraucht werden, trifft mal der rechte, mal der linke Fuß die Wahrheit. Ähnlich, wie ich keine Zelle x+1 zusätzlich zu meinen x Zellen bin, gibt es im All nicht zusätzlich zu seinen y Personen eine Person y+1 namens Gott; einen solchen menscherdachten Götzen zu leugnen fordert die linke Wahrheit ebenso, wie die rechte ermöglicht, den wahren GOTT anzubeten. Und unser einziges Leben nicht mit Spekulationen auf irgendeine Zeit nach der Zeit zu vertun, das sollten Gläubige von den anderen mit ebensoviel Eifer lernen, wie sie ihnen umgekehrt die Botschaft ihrer Osterhoffnung auf das wahre Ewige Leben ausrichten, das keine spätere Zeit sein wird, sondern diesen Augenblick jetzt - nicht vor dem Tod bewahrt aber aus ihm erlöst.

Wie bei jeder Ökumene heißt es auch bei der von Religion und Atheismus zwei Dimensionen unterscheiden: In der praktischen des öffentlichen Bekenntnisses kann jemand nur auf der einen oder anderen Seite stehen. "Hart im Raume stoßen sich die Sachen." Die geistliche Dimension des inneren Vollzuges ermöglicht und verlangt hingegen auf allen Seiten das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit. "Leicht beieinander wohnen die Gedanken." Nur im Miteinander deiner und meiner Wahrheit dienen wir dem gemeinsamen Leben. Zwischen Evangelischen und Katholiken wurde dies vor sechs Jahren in Augsburg feierlich erklärt. Es stimmt auch zwischen Atheisten und Religiösen.

Simone Weil († 1943) notierte das einmal so: "Fall wahrer Widersprüche. Gott existiert, Gott existiert nicht. Wo ist das Problem? Ich bin völlig gewiß, daß es einen Gott gibt, in dem Sinn, daß ich völlig gewiß bin, daß meine Liebe nicht illusorisch ist. Ich bin völlig gewiß, daß es keinen Gott gibt, in dem Sinn, daß ich völlig gewiß bin, daß nichts Wirkliches dem gleicht, was ich begreifen kann, wenn ich diesen Namen ausspreche. Aber das, was ich nicht begreifen kann, ist keine Illusion" (Schwerkraft und Gnade [München 1954], 210).

Goethe hat, altgeworden, sich selbst als gelingende solche Spannung aufgefaßt. "Sie wissen," meinte er 1830 zu Kanzler von Müller, "wie ich das Christentum achte, oder Sie wissen es vielleicht auch nicht; wer ist denn noch heutzutage ein Christ, wie Christus ihn haben wollte? Ich allein vielleicht, ob ihr mich gleich für einen Heiden haltet." Dem genialen Juden Franz Rosenzweig verdanke ich die Kenntnis dieses Ausspruchs, im "Stern der Erlösung" (Frankfurt 1921) zitiert er ihn (350). "... ob ihr mich gleich für einen Heiden haltet" ist auch der Titel der Zürcher theologischen Dissertation (1999) von Horst Lickert. Wie aufrüttelnd mich, nach dem Fahrrad-Zeichen, ihr Untertitel elektrisiert, leuchtet ein: "Goethe und sein Christentum. Authentische Ambivalenz als autarkes Profil".

Ja: Echte Doppeldeutlichkeit (keineswegs wacklige Zweideutigkeit!) kennzeichnet den mündig gewordenen Christen, der sich aus entfremdendem Götzen-Dienst und verbohrter Selbst-Sucht gleichermaßen freigekämpft hat, weder links noch rechts festhängt, auch nicht haltlos umhergeweht wird, sondern geistlich beidfüßig sein Leben meistert, kraftvoll je so auftretend, wie die Situation es verlangt.

Damit ist, glaube ich, ein Denkweg freigesprengt zwischen zwei Unmöglichkeiten: Ohne Glauben ist es unmöglich, Gott zu gefallen, lernt der Christ aus dem Hebräerbrief (11,6), doch darf ich einen Freund, wenn der ausdrücklich nicht glauben will, keineswegs für meinen Gottesglauben vereinnahmen. Muß ich ihn mithin für heillos halten? Nein. Denn das Wort "Glauben" ist doppelsinnig. Als ideologisch aufgenötigtes Verstandes-Ja zu Sätzen, die ihm falsch oder sinnlos scheinen, wird "Glauben" mit Recht, ja pflichtgemäß verweigert. Definiert jedoch als täglich liebend praktiziertes Ja des Herzens zur unbegreiflichen WIRKLICHKEIT, ist Glaube notwendig. Es lebt (diesen Eindruck habe ich) unbezweifelt auch in meinem angeblich gottlosen Freund - könnte er sonst in allen Widrigkeiten so gleichmäßig freundlich sein?

Bei Berufenen drückt das Herzens-Ja sich als formuliertes Bekenntnis zu GOTT aus, der sich ihnen offenbart. "Er hat Mose Seine Wege kundgetan" (Ps 103,7). Und anderen. Wieder anderen anscheinend nicht. Etwa, damit ihr Nein gegen jeglichen Aberglauben die Gläubigen vor der Versuchung warne, statt zu glauben in fundamentalistischen Wahn zu schlittern? Benedikt XVI. gebrauchte, vor 33 Jahren als Konzilskommentator vom Atheismus sprechend, sogar das hohe biblische Wort "Zeugnis": "Auch der Atheist hat ein Zeugnis zu verwalten, das den Christen angeht, ihn zum Hören und Nachdenken zwingt" (Joseph Ratzinger, Das neue Volk Gottes [Düsseldorf 1972], 122). Die Gegenwahrheit hat (in einer von Werner Bergengruen mitgeteilten Anekdote) ein alter Rittmeister seinem atheistisch auftrumpfenden Kameraden zugemutet: "Es ist nicht so wichtig, ob Sie an Gott glauben, als vielmehr, ob Gott an Sie glaubt."

Sofern Kahl seinen spirituellen Akzent als objektive Auskunft (miß)deutet, verdient er Widerspruch. "Keine höchste Instanz spricht ein letztes Wort" (35), "erinnerungslos" (48), "ohne Regisseur, ohne Souffleur" (40) bewegen wir uns "in einem großen Welttheater" (15). Diesen alten Vergleich aufnehmend, dürfen Gläubige nachhaken: Woher wissen Sie das so genau? Bühnengeschehen und WIRKLICHKEIT gehören verschiedenen Realitätsdimensionen an. Was weiß Aida von Verdi? In ihrem Universum gibt es keinen Verdi . Aber nur dank ihrem Schöpfer agiert sie. Weil jene "Höchste Instanz" uns nicht Big Brother ist sondern innigste, innerste LIEBE sein will, darum bringt ihr Blick mir keine Schande, nur überwältigendes Glück.

Nicht "Entdramatisierung" des Zusammenlebens (86) ist nötig, vielmehr Mut zum Blick aufs Große DRAMA. Wird auch die Figur Joachim Kahl von der REGISSEURIN LIEBE geführt, weil SIE es leid ist, wie ihre Kirchenleute SIE zum Popanz verunstalten? Diese meine Überzeugung wie des Verfassers gottlose sind nicht widersprüchliche Hypothesen (solche, wesenhaft innerweltlich, verfehlen unser Thema), sondern einander ergänzende Stereo-Akzente. Zusammen drücken sie unsere geheimnisvoll gemeinsame WAHRHEIT aus. Beidfüßig radeln, welche Lust! Wer fährt mit?

20. Januar 2006


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