Jürgen Kuhlmann

EWIGES LEBEN - TAG UM TAG NEU

Aktive Kontemplation

Seit alters ist es christliche Überzeugung, daß das aktive Leben mit diesem Dasein aufhört und das ewige Leben rein kontemplativ sein wird.[Gregor der Große, PL 75,764, zitiert von Thomas, S.Th. I-II, 66,6 ob 3] Nun, auf Griechisch heißt die Schau "theoria"; daß Theoretiker sich nichts Herrlicheres vorstellen können als die Gottesschau, leuchtet auch den Praktikern ein. Was wird aber aus ihnen? "Natürlich spielt man im Himmel Fußball," diese Auskunft von Pater Wolfgang hat mich als Kind sehr beeindruckt - war sie am Ende eine Ketzerei?

Mir scheint, wir sollten beim aktiven Leben zweierlei unterscheiden; das eine bleibt, das andere nicht. Was auf jeden Fall nicht bleiben kann, was deshalb die unwiederbringliche Würde des Lebens vor dem Tod ausmacht, ist die freie sich je jetzt entscheidende Festlegung der Lebensgestalt für immer. Nur während ein Kreis sich auf der Werdescheibe befindet, ist er der Bestimmer seiner selbst und entscheidet, wer und was er sein will. Gewesenes kann zwar stets neu und anders gedeutet werden, liegt aber in sich als Material solcher Deutungen für ewig fest.

Darf denn aber, was festliegt, Leben heißen muß die fertige Kugel uns nicht eher - und sei sie ihrer selbst noch so bewußt - als lebloser Zustand gelten? Das wäre ein Fehlschluß. Leben vollzieht sich nicht nur als Abenteuer und Ungewißheit. Denken wir an einen Komponisten, der mit einem Chor ein schwieriges Werk einstudiert. Da läßt sich Werden und Sein der Aufführung deutlich unterscheiden, aber auch ihr Sein ist kein Zustand, sondern wie die Presse nach der Premiere feststellt - ein Ereignis! In der Werdezeit wird die Gestalt des Werkes festgelegt, über einzelne Passagen wird disputiert, man vereinbart Tempi und Lautstärken. Mühsam lernen die Sänger ihre Partien, manche Stelle wird xmal verhauen, ehe sie sitzt.

Dann kommt der Tag der Aufführung. Nehmen wir an, niemand sei heiser und jeder kenne seinen Part im Schlaf. Dann hat der Abend nichts Mühevolles oder Unentschiedenes mehr, gehört also in diesem Sinn nicht mehr dem aktiven sondern eher dem kontemplativen Leben an. Freilich hat solche Kontemplation nichts mit der passiven Glotzerei von Televisionären zu tun. Nicht vor einem Himmelsschirm dürfen wir einmal hocken, sondern alles Verewigte aktiv und schöpferisch mittun. Allerdings haben wir dann keinen Einfluß mehr darauf, ob es so oder anders wird - geworden ist es schon. Diesen Einfluß haben aber auch jene Chorsänger nicht, jedenfalls wenn alles gut geht. Die einzige Spannung bei der Aufführung besteht darin, ob alles wie eingeübt abläuft; diese Spannung weggedacht, wird der Vollzug nicht minder aktiv, sondern noch unverkrampfter, also lebendiger sein.

Doch sogar Ungewißheit, Abenteuer und Wagnis müssen nicht fehlen. Wenn ein Länderspiel zeitversetzt gesendet wird, steht zwar an sich das Ergebnis schon fest, der Zuschauer kennt es aber noch nicht und ist deshalb ebenso gespannt, als wäre alles noch offen. Tatsächlich ist in jenem Jetzt auch alles noch offen. Wofern ein bestimmtes Jetzt verewigt wird, gehört zu ihm auch diese Offenheit. Auch der Ausgang eines Romans oder Films steht ja längst fest, bevor ich an seinen Anfang gelange; dennoch bin ich gespannt, obwohl ich nur als Zuschauer oder Leser beteiligt bin. Wieviel intensiver werde ich gepackt sein, wenn ich ein gewesenes Ereignis von innen her, aus der Sicht der Beteiligten selbst mitleben darf, sei es ein eigenes oder ein "fremdes": die Wörter eigen und fremd haben im Himmel hoffentlich keinen Sinn mehr.

Der Verewigte ist dem Zwang der einlinig weiterlaufenden äußeren Zeit sowie allen Beschränkungen der Kommunikation entnommen: es ist also vorstellbar, daß er sich mit irgendeinem anderen Subjekt identifiziert, welches irgendwann irgendwo gelebt hat, und nun die Welt mit dessen Gefühlen erlebt: was fühlt ein sich suhlendes Nilpferd, oder Mozart am Klavier? Obwohl die Strukturen der Kreise sich nur auf der Aktualitätsfläche dieses Werdelebens gestalten, während in der vollendeten abgelösten Kugel sich in Ewigkeit nichts mehr ändert, beharrt sie doch nicht in leblosem Zustand, sondern jeder ihrer verewigten Kreise vollzieht unmittelbar sein jeweiliges Ereignis, nicht mehr als Werden, aber als Sein.


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samt Geschichte dieses Begriffs und lustigem Stereo-Portrait

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