Jürgen Kuhlmann

Wider patriarchalische Verstockung

Breitet sich die Gnade über uns - oder wird sie gebreitet?

Gedichte, die uns als Kindern geholfen haben, uns und die Welt zu verstehen, kann man die ändern? Ja, wenn man z.B. einer Gesangbuchsredaktionskommission angehört. Da kann man, durch den Austausch eines einzigen Wörtleins, den Sinn wesentlich verschieben. Ist es nur konservative Scheu vor Änderungen, die mich (und vermutlich auch andere) ärgert, sooft das schöne alte Lied "Nun lobet Gott im hohen Thron" erklingt? Ich glaube, nein. Ein pfingstlicher Sinn wehrt sich, will die gleichrangige Würde der personhaften Liebe des Heiligen Geistes, IHRE andere, auf den Herr-Gott unrückführbare Atmosphäre gelten lassen.

"Denn sein Erbarmen, seine Gnad sich über uns gebreitet hat," so begann früher (im "Kirchenlied") die zweite Strophe. Im hebräischen Text des Psalms 117 steht nur "seine Gnade"; der deutsche Dichter hat vor vierhundert Jahren das "Erbarmen" hinzugefügt, hebr. "rachamim", was mit dem Wort für Mutterschoß zusammenhängt und mit dem weiblichen Wort "Ruach", mit dem Jesus den Heiligen Geist benannt hat. Wir können an eine Gluckhenne denken, die ihre Küken unter die Flügel nimmt. Das göttlich-mütterliche Prinzip breitet sich über uns. Das ist realisierte Pneumatologie: Die Ewige Huld in Person ist das Subjekt ihrer liebevollen Tat.

Was macht aus solch thea-sophischem Satz das mono-theo-logische Gesangbuchkomitee? "Denn sein Erbarmen, seine Gnad er über uns gebreitet hat" (Nr. 265). [Was ist ein Kamel? Laut E. Chargaff ein von einer Kommission gezeichnetes Pferd.] Statt als selbständiges Subjekt wird die Gnade als Objekt aufgefaßt, die lebendige Mutter verwandelt sich sozusagen in ein Tuch, das der Vater über uns breitet. Natürlich ist die Aussage auch so nicht falsch, sie ist aber kleiner, enger und (für mich) unsingbar ärgerlich. Berufe sich keiner auf das Judentum! Frau Lapide verdanke ich den Hinweis, daß "Jahwe" nicht "ich bin der ich bin" heißt, vielmehr "ich bin wer ich bin". Theomachismo sei nicht typisch jüdisch.

Niemand kann alles zugleich sagen. Das unbegreifliche Ineinander der Wahrheitspole des dreieinen Geheimnisses erschließt sich unserem Verstand nur nacheinander, durch Abwechslung gegensätzlicher Aussagen, deren jede ein anderes Grundgefühl auslöst. Jetzt blicke ich zum Vater und danke für die Güte, die ER mir zukommen läßt; dann wende ich mich zur unerschaffenen Gnade in Person und bin glücklich, daß SIE sich mir schenkt. Und verzeihe, zum Schluß, auch jenem Komitee. "Oportet haereses esse" (1 Kor 11,19), ohne einseitige Akzente träte die vollere Wahrheit nicht so deutlich hervor. Erst seit mich der neue Essig anwidert, verkoste ich dankbar, wie tröstlich der alte Honig ist - und hoffentlich, bei der nächsten Textrevision, auch für die kommenden Generationen wieder wird.

Mai 1993


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