Jürgen Kuhlmann

Der Sprung in die Mystik

Wie kann es nach dem Weg des Werdens weitergehen? Im Schoß des Ganzen bildet sich das Einzelne, wird von Gottes Blick getroffen, kommt zum Bewußtsein seiner selbst, konkretisiert sich im Entschluß, um sich zu verwirklichen, vor Gott zu verantworten und wieder im Ganzen aufzugehen, so daß der Kreis sich rundet. Ist das alles? Können wir nur immer wieder diesen selben Rhythmus wiederholen, mit anderem Material, in verschiedenen Kombinationen? Oder gibt es, über die Sprünge von einer Werde-Dimension in die andere hinaus, noch einen ganz anderen Sprung, hinaus aus dem Werden? Wohin?

Das Reich des Werdens ist mannigfach. Jeder Augenblick eines jeden Menschen ist eine einmalige, nie wiederkehrende Kombination aus Genen und äußeren Faktoren; die Romanabteilung einer großen Bibliothek mit ihrem unerschöpflichen Schatz an bewegenden Situationen zeigt nur einen winzigen Ausschnitt der bunten Realität. Und doch ist solche Vielheit nicht alles. Sie umfassend, hoch über sie hinaus und mitten in ihr lebt, gilt, wirkt, ist das Eine und Selbe. Dieser Satz läßt sich freilich nicht beweisen. Wer ihn für bloßes Wortgeklapper hält, wen das Zeugnis so vieler Mystiker nicht an die Echtheit der Erfahrung des Einen glauben läßt, wer zum Sprung aus dem Werden ins Sein unfähig oder unwillig ist - der sollte doch wenigstens aus ökumenischer Aufgeschlossenheit jene Zeugnisse ernst nehmen. Wovon irgendein Mitmensch herzlich überzeugt ist, das darf ich auch dann nicht verdammen, wenn ich es selbst nicht vollziehen kann. Doch halt! Dieses Prinzip setzt natürlich jene seltsame Einheit schon voraus, um die es uns geht. Gilt sie nicht - was soll mich dann hindern, jenen Menschen für schlechthin anders und unwichtig zu halten? Nein, aus dem vielen Werden ins eine Sein führt tatsächlich keine Verstandestreppe, sondern allein der Sprung der glaubenden Vernunft. Läßt er sich, wenn schon nicht beweisen, so wenigstens verständlich behaupten?

Jenen Sprung vom Vielen ins Eine, vom Werden ins Sein, den im Großen die Mystiker tun, ihn kennt im Kleinen jeder Mensch in seiner unmittelbaren Erfahrung, über die er vielleicht nur noch nie nachgedacht hat. Am deutlichsten wird er in der Ich-Dimension. Ich bin nämlich beides: eine Unsumme vielfacher, ja gegensätzlicher Ich-Prozesse und in ihnen allen dasselbe, identisch sich durchhaltende Ich. Und nicht nur diese Polarität erlebe ich unmittelbar, sondern auch, sooft ich will, den Sprung vom Vielheits- zum Einheitspol.

An spanischer Küste sitze ich auf meinem Felsblock, seit Jahren auf demselben. Was da, durch allzu wenige Zeitungen hindurch, den harten Druck des Steins verspürt, bin zweifellos ich. Doch nicht nur hart ist mir die Welt. Weich umfächelt laue Luft mir die Haut, auch sie bin ich. Das Gehör vernimmt Wellengeplätscher, wer vernimmt es? Ich. Das Auge sieht Felsen, Meer, Horizont, Himmel: auch der Sehende bin ich, ebenso jeder der Zehen in den Sandalen, die Lippe mit dem Salzgeschmack und die Finger, die dies schreiben. Und das ist noch nicht alles. Auch die Erinnerung an die heutigen Frühnachrichten bin ich und an die in einem vergangenen August und die Freude damals, daß die lange Nacht in Moskau nicht den Sturm auf das russische Parlament gebracht hat.

Das Ziel dieser Aufzählung ist, daß der Leser sie durch die eigene ersetzt! Spürst du deine Finger? Dann mach dir klar: jeder dieser Finger ist, nein bin ich. Genau der Blitz dieser Einsicht im Kleinen ist, sobald sie sich im Großen ereignet, der Sprung in die Mystik. Denn du weißt: In all deinen Gliedern und gegensätzlichen Konzentrationsvollzügen bist du zwar nicht das gleiche, aber doch dasselbe Ich; und dieses Ich ist zwar im Verhältnis zur Wirklichkeit überhaupt ebenfalls ein Werdendes, im Verhältnis zu seinen einzelnen Werdeprozessen aber ist es ein - stets mit sich identisches - Sein. In so vielen wechselvollen Jahrzehnten weiß ich mich doch auch als immer derselbe, zwar anders jetzt aber kein anderer als das staunende Kind von ehedem, das ich, so Gott will, auch mit 95 noch sein werde: ICH.


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sowie seinen neuen (seit Ende 2000) Internet-Auftritt Stereo-Denken
samt Geschichte dieses Begriffs und lustigem Stereo-Portrait

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