Jürgen Kuhlmann

EWIGES LEBEN - TAG UM TAG NEU

Und das Leid?

Wird auch das Todesröcheln im KZ verewigt und die Jahrzehnte einer verpfuschten Ehe? Schenkt dem Gequälten nicht einmal der Tod Erlösung? Wie hätte Reinhold Schneider, der zeitlebens tief unter den Grausigkeiten der Natur und Geschichte litt, sich über die Vorstellung entsetzt, alles Gräßliche sei in der Ewigkeit für immer lebendig! Wenige Monate vor seinem Tod notiert er: "Fest überzeugt von der göttlichen Stiftung und ihrer bis zum Ende der Geschichte währenden Dauer, ziehe ich mich doch am liebsten in die Krypta zurück; ich höre den fernen Gesang. Ich weiß, daß Er auferstanden ist; aber meine Lebenskraft. ist so sehr gesunken, daß sie über das Grab nicht hinauszugreifen, sich über den Tod hinweg nicht zu sehnen und zu fürchten vermag. Ich kann mir einen Gott nicht denken, der so unbarmherzig wäre, einen todmüden Schläfer unter seinen Füßen, einen Kranken, der endlich eingeschlafen ist, aufzuwecken. Kein Arzt, keine Pflegerin würde das tun, wieviel weniger Er! ... Warum sollte es nicht erlaubt sein, in der Kirche zu beten um die ewige Ruhe? Sie verheißt sie doch. Aber Ruhe ist nicht Leben; denn Leben wendet sich immer gegen sich selbst. Es ist doch gar nicht möglich, in einem Atemzuge um die ewige Ruhe und das ewige Leben zu bitten. Gilt aber die zweite Bitte nicht, so gelangt die Brücke nicht ans andere Ufer - und alle Wagen stürzen ab."

[Winter in Wien, Herder-Taschenbuch 142, S.76 u. 119]

Ja, Leben wendet sich immer gegen sich selbst. Noch bitterer klingt das neuerdings beim Brasilianer Leonardo Boff: "Die Welt ist aggressiv; ihr Grundgesetz heißt: dein Tod ist mein Leben ... offene Adern überall." [Das Vater Unser, S.21 der bras. Ausgabe Petropolis 1979]

Und alles Furchtbare soll ebenfalls verewigt werden? Die Antwort kann nur ein leises Ja sein. Wie sollte Gott etwas vergessen? Doch dürfen wir seiner Gerechtigkeit zutrauen, daß Gut und Schlecht sich DANN anders ausnehmen als beim isolierten Einzelerlebnis jetzt. Schon in diesem Leben kann der gelangweilte Playboy zwischen den schönsten Mädchen und vor den erlesensten Speisen tief melancholisch sein; umgekehrt weiß man von Soldaten, die im Eifer des Gefechtes überhaupt nicht merkten, daß ihr Arm bereits ab war. Das heißt: wie eine bestimmte Erfahrung tatsächlich empfunden wird, hängt nicht von ihr allein ab, sondern von ihrem Zusammenhang. Als verewigt, "richtet" jedes zeitliche Geschehen sich nicht mehr nach den hiesigen Maßstäben von Lust und Unlust, Scheitern oder Erfolg. Ewiges Leben - ewige Ruhe? Beides ist uns verheißen, auch diese Gegensatzlinien schneiden sich im Unendlichen. Wer lieber ausruhen möchte, freue sich aufs Nirwana, wer sich rauschendes Leben wünscht, wird nicht enttäuscht.

Allerdings sollten wir Christen uns vor einem falschen Zungenschlag hüten. Nie darf unsere Hoffnung nach Opium riechen, gleich als wollten wir Bosheit und Schmerzen irgendwie rechtfertigen, gar den Protest dagegen abwiegeln. Kindertränen und die Angst des Gefolterten dürfen uns keineswegs als nötig gelten für irgendeine höhere Harmonie. Nicht erklären sollen wir das Böse, sondern bekämpfen, in uns und um uns. So sehr es aber auf Erden immer wieder zu triumphieren scheint: DANN, im Zusammenklang des Ganzen, wird seine Nichtigkeit offenbar, ebenso die geheime Schönheit des bewältigten Leidens.

Nach menschlichem Ermessen dürfen einige unserer Grundwellen sich nicht nur ewig, sondern auch zeitlich schon vollenden; Beispiele sind Goethe, Einstein oder Bloch, die "alt und lebenssatt" gestorben sind. Andere werden schon gleich nach Beginn oder mitten in der steigenden Phase jäh abgebrochen: die Kinder in Auschwitz oder die armen Matrosen des argentinischen Kreuzers, dessen Torpedierung im eisigen Meer die Frühnachrichten eben gemeldet haben. Welch eine Welt!

Dennoch ist es nicht zynisch gemeint, wenn mir dazu Wolfgangs Weisheit einfällt, wie er bei einer Wanderung prüfend zum Himmel schaut und bemerkt: Wenn es jetzt regnet, hat der Ausflug sich schon gelohnt. Auch beim unzeitigsten Sterben werden ja nicht alle Wellen unfertig abgebrochen; einige sind doch schon vollbracht und bereichern die Ewigkeit. Im Musik-Gleichnis gesprochen: Weil - bei unverwischbarer Besonderheit jeder Einzelmelodie - dem hier noch so Vereinzelten in Gott alles bisher Gelebte zugleich erklingt: deshalb sind Kürze oder Ärmlichkeit eines irdischen Liedes kein ewiger Nachteil. Ob kurzer Fanfarenstoß, kaum heraushörbare Bratschenpassage oder gar nur winziger Triangelton: auf alles kommt es an in der Symphonie.

Eine weitere Polarität gehört hierher. "Wer den Willen Gottes tut, bleibt in Ewigkeit" (1 Joh 2,17) - "Dein Reich komme!" Wem es gut geht, wünscht eher, daß alles so bleibe; wer sich schlecht fühlt, möchte, daß es endlich anders kommt. Beider Sehnen wird bei der Verewigung erfüllt. Der Ja-Anteil irdischer Erfahrung bleibt und wird unendlich, für den Nein-Anteil kommt die endgültige Negation, d.h. Verwandlung ins unendliche Ja. Minus mal Minus gibt Plus: die Rechenregel der Grundschule erhebt sich zu höchster Symbolkraft. Streich das Minuszeichen durch, und du erhältst das Zeichen für Plus. Unser Gutes wird bewahrt, vom Bösen werden wir erlöst. Gottes Ja zu jedem Licht und sein Nein gegen alle Finsternis der Welt sind, ineinander, das reine schattenlose Licht: Die Sonne ist ein Stern, jeder Stern eine Sonne.

Mögen auch wir lernen, abwechselnd beides zu vollziehen, kindlich-positive Zusammenschau und jugendlich-kritischen Durchblick. Dieser kennzeichnet den Intellektuellen, jene den schöpferischen Menschen. "Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht ins Himmelreich hineinkommen", (Mt 18,3) - "Kindische Christen seid ihr mir, die Flasche muß man euch geben!" (1 Kor 3,1 f) Mündigkeit verlangt beides, das warme Ja zur Wirklichkeit ebenso wie das kühle Nein zu jedem sich blähenden Nichts.


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samt Geschichte dieses Begriffs und lustigem Stereo-Portrait

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