Jürgen Kuhlmann

Die beiden Takte der Offenbarung

Christliche Predigt über das jüdisch-christliche Verhältnis

Anlaß: Zeit nach Ostern; Ökumene mit dem Judentum
Botschaft: Seine allumfassende Liebe zeigt Gott so, daß Er
zuerst ein Volk vor den anderen erwählt und dann diese
besondere Freundschaft auf alle ausweitet.
Themen: Jesu Anspruch widerspricht scheinbar seiner Demut
- ein Werbefilm als Offenbarungsgleichnis - drei gegensätzliche Programme:
a) Juden - b) Christen - c) die Moderne - nötig: lebendiger Rhythmus!
Ziel: Der Hörer versteht, daß auch er dazu erwählt ist, von
Gottes allgemeinem Heilswillen Zeugnis zu geben.


»Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater außer durch mich.« Ein stolzes Wort, das der Evangelist Johannes unseren Herrn da sagen läßt (14,6). Christliche Sektenleute berufen sich auf es, mit leuchtenden Augen. Viele aber stößt es ab. So dürfe, sagen sie, ein Mensch nicht sprechen, nicht einmal wenn er Gottes Sohn sei, gerade dann am wenigsten; denn dann müßte er die üblen Wirkungen ja vorhersehen, zu denen ein solch überzogener Anspruch bei seinen minder erleuchteten Jüngern führen würde! Immer noch hallt in der Christenheit unbeantwortet die Frage nach, die Václav Havel im Oktober 1989 in seiner Friedenspreisrede gefragt hat: »Wie war eigentlich das Wort Christi? War es der Anfang der Geschichte der Erlösung und einer der machtvollsten kulturschaffenden Impulse in der Weltgeschichte - oder war es der geistige Urkeim der Kreuzzüge, Inquisitionen, der Ausrottung der amerikanischen Kulturen und schließlich der gesamten widersprüchlichen Expansion der weißen Rasse, die so viele Tragödien verursacht hat, einschließlich der, daß heute der größte Teil der menschlichen Welt in die traurige Kategorie einer angeblich erst Dritten Welt fällt?« (Václav Havel, Am Anfang war das Wort, Reinbek 1990,215)

Wie anders klingen die Worte desselben Jesus bei Mattäus (11,28-30), gar erst in der herrlichen neuen Übersetzung von Fridolin Stier: »Heran zu mir alle, ihr Mühenden und Überbürdeten: Ich werde euch aufatmen lassen. Mein Joch nehmt auf euch und lernt von mir. Denn: Sanft bin ich und von Herzen niedrig, und ihr werdet Aufatmen finden für euer Leben. Mein Joch ist ja gut, und meine Bürde ist leicht.« Von Herzen niedrig: Ja, nur so kann unser mißtrauisches, von so viel Menschenhochmut eingeschüchtertes Herz sich den Gottmenschen vorstellen. Dies ist seine echte Stimme. Sie läßt uns aufatmen. Wie verträgt sich mit ihr aber jener andere Anspruch von vorhin? Ist jemand von Herzen niedrig, der sich für alle Menschen als den einzigen Weg zum Heil ausgibt? Das paßt doch nicht zusammen. Mindestens nicht so, wie die Christenheit Jesu Anspruch bisher begriffen hat. Haben wir ihn mißverstanden? Wie ist die Heilsnotwendigkeit des Christusweges dann aber so aufzufassen, daß sie nicht gegen Jesu Demut und Freundlichkeit verstößt? Ohne Antwort auf diese Frage, glaube ich, kann ein Christ heute, in der einen Welt, seines Glaubens nicht mehr froh sein. Und zwar erstreckt die Frage sich in zwei Richtungen: rückwärts zur andersgläubigen Herkunft unserer Offenbarung ebenso wie vorwärts zu unseren andersgläubigen Mitmenschen.

Die Herkunft des Christentums ist die jüdische Glaubenswelt. Jesus, sein Stifter, war nicht Christ sondern Jude; Juden waren - mit Ausnahme von Lukas - auch die Verfasser des Neuen Testaments. Die harten Worte, die dort gegen die Juden fallen, stammen aus jüdischem Munde, sind als innerjüdische Kritik jüdischer Mißstände gemeint. »Jude« heißt da schlicht: »Mensch«. (Als jüngst am Bankschalter in Israel der Angestellte meinem Bonner Freund, der gut neuhebräisch spricht, nicht weiterhelfen konnte, rief er seinen Kollegen zu Hilfe: »Komm mal bitte, da ist ein Jude, der hat ein Problem.«) Daß jene scharfen Worte im Laufe der Geschichte dazu mißbraucht wurden, unchristlichen Christen bei ihren Judenverfolgungen ein scheinbar gutes Gewissen zu verschaffen, ist eine unauslöschliche Schande der Christenheit, für die jeder Christ, auch bei persönlicher Unschuld, sich schämen muß, ebenso wie jeder Deutsche für die Naziverbrechen.

Die Christenheit war bis vor kurzem antisemitisch, das Christentum kann es nicht sein, denn es verdankt sich den Juden. Wie ist ein solcher Widerspruch zu erklären? Und wie verhält er sich zu dem anderen Widerspruch, daß die meisten Menschen im heutigen Abendland mehr oder minder antikirchlich eingestellt sind - obwohl die Kirche doch im Grunde nur das Beste für sie will, ihr Heil in Zeit und Ewigkeit? Aufatmen will Jesus die Seinen lassen, warum sträubt die Mehrheit, die doch überlastet genug ist, sich trotzdem gegen das befreiende Angebot des menschenfreundlichsten aller Menschen? Beide Widersprüche, der Antisemitismus der ursprünglich selbst jüdischen Christenheit wie die Kirchenfeindschaft der nachchristlichen Moderne, sie scheinen einander ähnlich. Wie kam es zu ihnen?

Ich glaube: Deshalb, weil das Geheimnis der göttlichen Erwählung den Menschenverstand überfordert. Der kann nämlich nur so erkennen, daß ein Vordergrund sich vor einem anderen Hintergrund abhebt. Ein klares Beispiel ist die Waschmittelreklame. Wer deutlich machen will, wie weiß das Pulver XY wäscht, wird er den Bildschirm mit einem Leintuch ausfüllen? Bestimmt nicht. Sondern vor einem dunkelweißen Tuch zeigt man das strahlend weiße Hemd, erst der Gegensatz macht sichtbar, was gemeint ist. Wie aber, wenn Thema der Sendung gerade die Weiße des ganzen Tuches sein soll? Dann braucht es zwei Bilder: Zuerst zeigt man das Tuch als grauen Hintergrund vor dem weißen Hemd und läßt dann auf einmal den Gegensatz verschwinden, so daß im Nu alles ebenso weiß strahlt wie eben noch nur der Teil. Freilich muß die Sequenz dann auch sofort zu Ende sein, sonst verblaßt, weil ohne Gegensatz, das Weiß schnell zum gleichgültigen Grau. Die Botschaft, auf die es ankommt, wird nur in dem einen Moment vermittelt, da der frühere Gegensatz zwischen grau und weiß verschwindet und alles erstrahlt. Vorher war nur ein Teil weiß, hinterher wird bald alles grau sein. Einen Moment lang aber ist tatsächlich alles weiß, und an diesen Moment erinnert sich das Gedächtnis, vergißt nie mehr die wunderbar umfassende Waschkraft von XY.

Dürfen auch wir, wie Jesus, in Szenen des Alltags Gleichnisse des Gottesreiches entdecken? Ich meine, ja. Anscheinend hat der sich offenbarende Gott es geradeso gemacht wie jene Werbefilmer. Zuerst hat Er, vor dem Hintergrund der Völkerwelt, den Abraham erwählt und seinen Samen, das Volk Israel, durch zwei Jahrtausende geleitet. Sinn und Ziel solcher Erwählung war jedoch, im Gleichnis gesprochen, nicht so sehr das Hemd, sondern die Weiße, und zwar die Weiße des Ganzen, das bedeutet: Gottes Reich, Heil ohne Grenzen. Deshalb sollte der Gegensatz zwischen Erwählten und nicht Erwählten zuletzt verschwinden.

In der »Fülle der Zeit« (Gal 4,4) wird dem Judenvolk ein Kind geboren, von dem der christliche Glaube bekennt: Jesus ist kein bloßer Mensch, sondern der SINN selbst auf menschliche Weise. Er wächst auf in erregt gärender Zeit, weite Kreise sind vom Endzeittaumel erfaßt: Bald ist es mit dem bisherigen schäbigen Dasein vorbei, Gottes Reich stürzt auf uns ein. Selig, wen es bereit findet.

Allmählich versteht Jesus - welcher Schock für ihn, der ja Mensch war wie wir: Ich selbst bin der Kristallisationskern dieses Reiches, in meiner Person ist es schon da, gesprengt sind die alten Kategorien. Absichtlich heilt er ausgerechnet am Sabbat; jetzt gilt das Heil, das Ganze, nicht mehr irgendwelche abgrenzenden Definitionen. Unbefangen redet er mit Frauen, der irrgläubige Ausländer wird den eigenen Leuten derart massiv als Vorbild hingestellt, daß das Schimpfwort von damals im Samariterbund noch heute einen guten Klang hat. Und wie mag es erst den ehrbaren Damen der Oberschicht in den Ohren geklungen haben, wenn dieser Vagabund ihnen versicherte: »Die Zöllner und die Huren kommen vor euch ins Reich Gottes« (Mt 21,31). Ich kenne einen Radfahrer, den sein Arbeitsweg täglich zweimal am Puff vorbeiführt, jenes Schriftwort bohrt sich ihm immer tiefer ins Herz. Damals war es kein Schriftwort, vielmehr eine bodenlose Frechheit. »Das Reich Gottes ist nahe« (Mk 1,15), das ist der Kern von Jesu Flammenruf. Mit Israels Sonderberufung ist es vorbei, die Vollendung der Welt steht bevor.

Wie geht es weiter? In einer Hinsicht: gar nicht. Das Heil hat sich ereignet, für einen wunderbaren Augenblick ist mitten in der Geschichte ihr Sinn, ihr strahlendes Ziel aufgeblitzt. »Sein Antlitz erstrahlte wie die Sonne, seine Kleider wurden weiß wie das Licht« (Mt 17,2). Uns alle liebt Gott. Nicht bloß wie ein Millionär seine Gäste, sondern als einer von uns, und bis in den Tod. Jesus stirbt, »nicht nur für das Volk allein, sondern auch um die versprengten Kinder Gottes ineins zusammenzuführen« (Joh 11,52). Die Offenbarungssequenz ist zu Ende. Schnitt.

In anderer Hinsicht aber muß es weiter gehen, die Schöpfungszeit ist noch nicht vorbei, nach Gottes Willen sollen ja auch wir Heutigen noch drankommen und wer weiß wie viele weitere Generationen! Was passiert? Verschiedenes, je nach dem Programm.

a) Die Juden halten weiterhin sich für das auserwählte Volk. Jesu Botschaft ist für sie gar nicht so neu gewesen. Daß Gott alle Völker liebt, steht schon bei den Propheten, denken wir nur an Jona. Er mußte damit fertig werden, daß die heidnische Stadt Ninive nicht unterging, obwohl er es ihr doch im Namen Gottes hatte androhen müssen. Aber jene Heiden hatten sich bekehrt und Gott hatte das seltsamerweise gelten lassen - anscheinend ist Israel also zuletzt, wenn es drauf ankommt, gar nicht sein einziger Liebling auf der Welt. Vorletztlich aber, als umstrittenes Zeichen für den verborgenen Gott, bleibt dieses Volk ausgewählt, herausgehoben aus der Menge der unerwählten Völker - für jeden, der sehen kann, offenkundig bis heute.

b) Anders sieht das christliche Programm aus. Damit die Offenbarung des göttlichen Weiß nicht vergessen wird, deutet die Christenheit sich selbst als Thema einer weiteren symbolischen Sequenz. Von ihrer Oster- und Pfingsterfahrung ermutigt, erklärt die Kirche sich zum Neuen Israel, jetzt ist sie das erwählte Volk Gottes im Gegensatz zu den verstockten Juden und den noch ungläubigen Heiden. Wieder leuchtet hell ein Zeichen Gottes vor dem unerleuchteten Grau der Welt.

Allerdings wird die frohe Botschaft des kat-holischen, allgemeinen Heils von den Kirchen nie mehr vergessen, der neue Film über das Geheimnis des Weiß gerät sozusagen ins Flimmern. Immer wieder springt das weiße Licht über die Grenzen des Zeichens hinaus und erfüllt alles mit sich selbst. »Gott will, daß alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen« (1 Tim 2,4), bekennt der Christ und liest das Gleichnis des verlorenen Sohnes stets im Zusammenhang des eigenen Lebens, wo ich selbst ja jener nur scheinbrave Ältere bin, der sich von seiner Einbildung und Sturheit bekehren muß, sonst stehe ich draußen, während man drinnen feiert, zusammen mit dem anderen, der aber gar kein anderer ist, sondern ursprünglich ebenso dazugehört wie ich.

c) Auch dieses Fest zieht sich hin, wird Alltag, Routine: ein drittes Programm. Aus dem strahlenden Weiß des ganzen Tuches »alle sind wir erwählt, auch die Verlorenen« ist gleichgültiges Grau geworden: »Erwählung? Gibt es nicht.« Das ist die ungeheure Zweideutigkeit der aufgeklärten Neuzeit. Bestenfalls ist sie radikal christlich: der Versuch, die von Jesus gebrachte Entschränkung des Heils konsequent ernst zu nehmen und zum Prinzip der mündigen Gesellschaft zu machen. Schlimmstenfalls ist sie vorjüdisch: Rückfall ins allgemeine Heidentum vor Abrahams Erwählung - das ja auch während der letzten viertausend Jahre die Denkform der meisten Menschen gewesen ist. Sogar im mittelalterlichen Europa, vermutet ein Fachmann, waren nur geringe Teile der Bevölkerung in dem Sinne christianisiert, daß Jesu Impuls ihr Leben bestimmte.

Wie gehen Juden und Christen mit der Dialektik von Grau und Weiß verantwortungsbewußt um? Jedes Pochen auf unsere bestimmte Erwählung gefährdet, verdunkelt unsere Botschaft vom unbeschränkten Heil. Umgekehrt wird dessen laute Verkündigung von den Heiden sofort als Freibrief mißverstanden, nach Gottes bestimmtem Willen gar nicht erst zu fragen, weil der doch immer schon von seinem allgemeinen Heilswillen überholt, entwertet sei. Doch »was kein Verstand der Verständigen sieht, das übet in Einfalt ein kindlich Gemüt« (Schiller). Es fragt gewissenhaft: Was ist dran? Welchen Takt des Offenbarungsrhythmus trägt der Herr der Geschichte gerade jetzt gerade mir auf, das anfangs gültige Ja zum weißen Zeichen gegen das allgemeine Grau, oder das endgültige Ja zum Weiß des Ganzen gegen die Arroganz des Teils? Ohne den Mut zu solch prophetischer Unterscheidung kein lebendiger Glaube, nur Ideologie, entweder fundamentalistisch-starrsinnige oder pluralistisch-sinnlose.

So löst der scheinbare innere Widerspruch des Glaubens sich auf: zur gesunden Polarität existentiell gegensätzlicher Takte innerhalb eines geistigen Rhythmus.

Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben - wie also paßt dieser Anspruch Jesu damit zusammen, daß er von Herzen niedrig ist? Ich glaube, so: Herzliche Demut, wie er sie vorgelebt hat, ist zuletzt der einzig wahre Weg zum Leben. Zuletzt, das heißt: dann, wenn das erwählte Heilszeichen vor dem Hintergrund des Unheils so deutlich leuchtet, daß sein Weiß sich nunmehr - was von Anfang an seine Bestimmung war - aufs Ganze ausweiten soll. Dann ist auf einmal das Gegenteil des Früheren dran: »Den Alten ist gesagt worden - ich aber sage euch ...« Weil Jesus das Judentum voll verwirklicht, darf er dessen Enge sprengen. Wer sich jetzt gegen die Ausweitung sträubt, widerspricht der Liebe Gottes zum Verlorenen und geht, bis er sich bekehrt, selbst verloren.

Weil das Weiß für sich allein unserem Bewußtsein aber bald zum Grau verblaßt, deshalb muß, in der Zeit, vor jedem Durchbruch des »christlichen« Prinzips (auch bei Juden und überall) das »jüdische« Prinzip (auch bei Christen und überall) der auswählenden Sonderberufung gelten. Wem es nach Gottes Willen gilt, dem scheint jeder Widerspruch nicht christlich, sondern heidnisch: Alles weiß wollt ihr machen? Ach, ihr macht bloß auch uns noch grau! So läßt sich z.B. verstehen, was vor Jahren ein erfahrener Vatikan-Mitarbeiter berichtete: daß eine Berufung auf Jesus dort als höchst geschmacklos galt. Jedem seine Rolle. Auch vom neuen Jerusalem aus liegt Nazaret irgendwo da draußen.

Offenkundig löst dieser Denkvorschlag kein einziges der heute brennenden Kirchenprobleme. Er bietet den Streitparteien aber eine gemeinsame Sprache, in der ihre Widersprüche sich als Gegensätze innerhalb einer notwendigen Polarität begreifen lassen. Jesus ist nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert, und hat doch die Friedenstifter selig gepriesen. Sollte der Konflikt von Harmonie und Konflikt und die Harmonie von Konflikt und Harmonie geheimnisvoll dasselbe sein?

Seien deshalb auch wir von Herzen niedrig. Kämpfen wir, wo Kampf uns geboten scheint. Versagen wir dem Gegner aber nicht die Achtung. Das Urteil über ihn kommt nicht uns zu. »Vor seinem eigenen Herrn steht oder fällt er« (Röm 14,4). Der Kirche Lebensprinzip Jesus Christus bleibt auch in ihr immerfort jenes »Zeichen, dem widersprochen wird« (Lk 2,34), an dem sich die Geister scheiden müssen, damit sie miteinander zum Heil finden.


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