Jürgen Kuhlmann

Eine Wippe

Ist beim Thema Welthunger jede Klarheit verkehrt? Auch diese?

"Ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben," wird der Richter DANN sagen, und auf die erstaunte Frage "Herr, wann?" wird seine Antwort sein: "Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, habt ihr mir getan." Wie die Osterbotschaft den Kern des christlichen Glaubens ausdrückt, so bildet jene Selbstidentifikation des Gottessohnes mit den letzten Menschen das Herz dessen, was man den jesuanischen Glauben nennen kann: in jedem bedürftigen Anderen begegne ich dem Antlitz des Eigentlichen; auf meine rechte Beziehung zu ihm kommt für mich alles an. Nur miteinander sind beide Glaubensweisen das Leben der Kirche.

"Ich war hungrig," wird der Richter sagen. Ob Jesus, als er diese (vermutlich ja echten) Worte formulierte, sich ihrer Spannung zu einem anderen Bibelsatz bewußt war, den er bestimmt häufig gebetet hat? Natürlich ist eine solche Frage unbeantwortbar; nur den Sinn hat sie, uns Spätere auf die Spannung hinzuweisen, damit wir mit ihr umzugehen lernen. Wer Jesu Sätze nämlich aus ihrem jüdischen Wurzelgrund reißt, erhält nicht belebende Wahrheit sondern unfruchtbare Häresie.

Im 50. Psalm macht Gott sich über die frommen Kreise lustig, die ihm mit Tieropfern schmeicheln wollten:

"Mir gehört alles Getier des Waldes,
das Wild auf den Bergen zu Tausenden.
Ich kenne alle Vögel des Himmels,
was sich regt auf dem Feld, ist mein eigen.
Hätte ich Hunger, ich bräuchte es dir nicht zu sagen,
denn mein ist die Welt und was sie erfüllt" (10-12).

Hätte ich Hunger, bräuchte ich es dir nicht zu sagen - ich war hungrig. Diese Polarität läßt sich als geistliche Wippe erleben. Eine Episode aus meiner Schulzeit bei Augsburger Benediktinern fällt mir ein. Warum schaust du so traurig? fragt Pater Wolfgang. - Weil ich so gern später mal ein Motorrad hätte, aber nie eins haben darf. - Warum nicht? - Sobald ich es bezahlen könnte, müßte ich das Geld doch für die hungrigen Kinder in Indien hergeben. - Keine Sorge, du wirst dein Motorrad schon kriegen ...

Ein Freund erzählt dieselbe Geschichte anders: Er habe in der Jugend jedes Suppenhuhn beneidet, weil es bloß zum Kochtopf unterwegs war und nicht zur Hölle wie er, weil er sein Taschengeld vernaschte statt es für die Hungrigen zu spenden.

Gilbert Chesterton warnt: "Verrückt ist nicht, wer den Verstand verloren hat sondern wer alles verloren hat außer dem Verstand." Warum ist das so? Weil der Verstand logisch denkt, das kann er aber immer nur je auf einer Seite jener Wippe des Herzens tun, die in der Theologie seit jeher "Unbegreifliches Geheimnis" heißt, in der Systemtheorie derzeit "Paradoxie". Den Sprung auf die andere Seite schafft nicht der seinem Standpunkt verhaftete Verstand, sondern allein die vernehmende Vernunft: Wenn sie spürt, daß die eine Wahrheit logisch zu irrsinnigen Resultaten führt, findet eine vernünftige Seele oder Gemeinschaft ihre neue Balance dank der ebenso logischen Gegenwahrheit. Hätte P. Wolfgang mir damals jene Psalmverse vorgelesen und erklärt, dann wäre ich nicht nur getröstet gewesen, sondern hätte vielleicht sogar verstanden, wie lächerlich die Idee des bayerischen Buben war, er könne für Indiens Hunger verantwortlich sein.

Freilich ist auch dieser Gegenpol keineswegs die Wahrheit sondern nur eine. Als Gottes Ruf "Ich bin ein sterbenskranker Inder, bitte wende dich mir zu!" an die albanische Ordensfrau erging, die später Mutter Teresa hieß, da war gerade dieses Wort im Geist des Evangeliums ihre Seite der Herzenswippe. Welche das jeweils sei, wird von keiner Logik bestimmt. Wovon dann?

Der Soziologe preist (in anderem Kontext, doch ist der Gedanke auf unser Thema übertragbar) die Paradoxie, weil sie dem einzelnen die je eigene Wahl gestattet: Sie "ermöglicht für die auftretenden Probleme ... gegensätzliche Lösungen - und damit individuelle Verhaltenswahlen. Die Literatur ist voll solcher Widersprüche, und sie kommen dem Individuum zu Gute" (N. Luhmann, Liebe als Passion 128 f.). Dem stimmt der Glaubende zu und ruft inmitten der Paradoxie das Geheimnis an, "Herr, was willst Du daß ich tun soll" (Apg 22,10)?

Wer prinzipiell auf den Psalmvers nicht achten sondern nur dem Evangelium folgen wollte, würde diesem nicht gerecht (sein Buchstabe gilt ja nur im Heiligen Geist), es vielmehr zum unerfüllbaren, in den Wahnsinn treibenden Gesetz verfälschen. Wer sich umgekehrt grundsätzlich darauf beriefe, daß für die Welt ihr Schöpfer sorgen, ihn selbst aber aus dem Spiel lassen soll, müßte sich zuletzt grausam schämen. "Ich war hungrig, und du hast mir nichts zu essen gegeben."

Gott Du Heil aller Menschen: Sooft unser Sinn verzagt angesichts irgendeiner zerreißenden Paradoxie, nimm Du Dich der Wipppe unseres Herzens behutsam an und laß sie, in Deinem Liebesgeheimnis - mal so mal anders - wohl austariert, ihre Balance finden.

August 2001


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samt Geschichte dieses Begriffs und lustigem Stereo-Portrait

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